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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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gleichermaßen überwältigt war. Lilys erste zwei Lebensjahre hatte sie wie ein Schatten neben dem Kinderbett verbracht und zugesehen, wie die Brust des Babys sich hob und senkte, auf die fast lautlosen Atemgeräusche gelauscht und manchmal sogar die flache Hand auf das schlafende Kind gelegt, um den raschen Herzschlag zu spüren und sich zu vergewissern, dass dieser zarte Hauch von Leben über Nacht nicht einfach verschwunden war.
    Erst nach Lilys zweitem Geburtstag war Grace langsam zuversichtlicher geworden, zum einen, weil Kleinkinder so viel widerstandsfähiger waren als Babys, zum anderen, weil sie mittlerweile überzeugt davon war, dass es einen vorherbestimmten Grund für Lilys Existenz gab, eine Absicht, die ihr garantierte, dass ihr das Kind so bald nicht genommen werden würde. Lily war nicht nur auf die Welt gekommen, um Grace eine Freude zu bereiten, sondern auch als mahnendeErinnerung an das Schlimmste, was Grace je in ihrem Leben getan hatte: Sie hatte dazu beigetragen, dass eine Mutter und eine Tochter getrennt wurden.
    Mutter zu sein hatte Grace veranlasst, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und jetzt, da Lily fast fünf war, so alt wie Maggie Greene vor neuneinhalb Jahren, hatte Grace begonnen, die beiden Mädchen in ihren Gedanken miteinander zu verbinden und den Aberglauben zu nähren, dass auch sie von ihrer kleinen Tochter getrennt werden könnte, wenn sie Maggie gegenüber nicht bald etwas wiedergutmachte.
    Grace legte die Klausur in einen großen Hefter, den sie in ihre Tasche stopfte. Dann warf sie noch einen letzten Blick auf ihren Schreibtisch. Die zwei in Holz gerahmten Bilder von Jesus und Lily an den oberen Ecken des Tisches dienten ihr als Anker, Jesus rechts und Lily links, zwei Punkte in dem Dreieck, das ihre gefährdete Welt zusammenhielt. Sie schrieb es Jesus zu, dass Lily in ihr Leben getreten war. Nicht Gott. Der Vater hatte sie nie so interessiert wie der Sohn, wohl vor allem, weil ihr eigener Vater sie in ihrer Kindheit immer nur zum Schweigen angehalten hatte. Er war ein Mann mit wenig Geduld für die weiblichen Wesen um sich herum gewesen, die ihm ständig bloß mit Nichtigkeiten wie Plaudereien und Einkaufen beschäftigt schienen.
    »Dein Vater liebt dich«, hatte Graces Mutter ihr immer versichert. »Er hat nur Schwierigkeiten, es auch zu sagen, weil er so zurückhaltend ist.«
    Grace schaltete das Licht in ihrem Klassenzimmer aus und ging dann, entlang an den Reihen rot-goldener Betonziegel, den Korridor hinunter. Sie winkte Mr Beaufort zu, dem Erdkundelehrer, der noch an seinem Schreibtisch saß und las, als sie an seiner Tür vorbeikam.
    »Bleiben Sie nicht mehr zu lange, Sam«, rief sie.
    »Bestimmt nicht«, erwiderte er.
    Sam war Anfang sechzig, seine Schläfen wurden langsamgrau, sein Haaransatz zeigte tiefe Geheimratsecken und er trug eine Lesebrille mit Metallgestell, genau wie ihr Vater. Grace fragte sich, ob er wohl Töchter hatte, und wenn ja, ob er sie liebte? Nahm er sie in den Arm und sagte ihnen, dass sie hübsch waren? Liebe war nichts, was man zurückhalten sollte; sie sollte nicht dreißig Jahre lang unausgesprochen bleiben. Liebe sollte wie ein beständiger Regen niedergehen und den Geist zum Erblühen bringen.
    Grace trat ins Treppenhaus und verzog leicht das Gesicht wie immer angesichts der Wandgemälde dort mit den römischen Tempeln, den in Togen gekleideten Göttern und dem in einem wolkigen Himmel schwebenden Pegasus. Irgendetwas an Merkur mit seinem geflügelten Helm und den schlanken, muskulösen Beinen erinnerte sie an Maggies Dad, den Vater, der am Einführungsabend für die neuen Schüler am stärksten aus der Menge hervorgestochen war. Mr Greene hatte an einem Tisch ganz hinten in Graces Klassenzimmer gesessen, während Maggie stehend neben ihm Wache hielt, so als hätten Kind und Elternteil die Rollen vertauscht. Es waren noch ein Dutzend weitere Eltern und Schüler da gewesen, die Graces sechsminütiger Zusammenfassung ihres Geometriekurses zuhörten, aber nur Mr Greene war sachkundig genug gewesen, die Hand zu heben und zu fragen: »Wie viel Zeit werden Sie denn auf Beweise und Theoreme verwenden?«
    Gott segne jeden Menschen, der etwas von Mathematik verstand. Die meisten anderen Anwesenden waren ehrgeizige Mütter gewesen, die sich mehr für das Benotungssystem als den Unterrichtsgegenstand interessierten, die jetzt schon versuchten, die Fächer ihrer Kinder an den Aufnahmekriterien der Elite-Universitäten auszurichten,

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