Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
brachten ihre Tage damit zu, von einer Aktivität zur nächsten zu eilen, von der Schule zum Sport, zu hastigen Mahlzeiten, zum Musikunterricht am Spätnachmittag, gefolgt von drei Stunden Hausaufgaben, die dann von überehrgeizigen Müttern penibel geprüft wurden. Vielleicht war das Mädchen einer dieser Teenager, überbehütet und überlastet.
Aber wie immer ihre Situation auch sein mochte, Carver konnte nicht einfach wieder gehen. Schließlich bestand die Möglichkeit, dass das Mädchen kurz davor war, eine Dummheit zu begehen – von zu Hause wegzulaufen etwa, oder vielleicht war sie unglücklich verliebt, wartete auf einen Freund, der nie auftauchen würde, und zog in dem Moment, in dem Carver ihr den Rücken kehrte, Drogen aus der Tasche.
Er setzte seine Sonnenbrille wieder auf, schob die Zweige beiseite, die ihn verdeckten, und trat noch einige Schritte näher. Das Mädchen drehte sich zu ihm um, und als ihre Blicke sich trafen, verschränkte Carver die Arme vor der Brust. Diese kleine Geste reichte meist, um die Teenager weglaufen, fluchen, in Tränen ausbrechen oder mitleiderregende Entschuldigungen stammeln zu lassen. Doch nicht dieses Mädchen. Sie richtete den Blick wieder hinauf ins Laubdach und sah die Blätter an.
»Wie lange willst du dort oben liegen bleiben?«, fragte Carver.
»Ich dachte, so dreißig Minuten«, erwiderte sie. »Aber jetzt gerade hätte ich auch nichts gegen dreißig Jahre einzuwenden.«
Sie sprach nicht mit dem schweren Akzent der Südstaaten, der so typisch war für die meisten Kinder vom Land. So deutlich, wie sie jede Silbe aussprach, vermutete Carver, dass sie eine der Schülerinnen aus der Stadt war, vielleicht die Tochter eines College-Professors.
»Nun«, sagte er, »ich wollte fast schon Schluss machen für heute, aber jetzt stecke ich hier fest und muss auf dich warten.«
Das Mädchen stützte sich auf einen Ellbogen, sah ihn noch einmal an und seufzte. Dann setzte sie sich auf, robbte bis an den Rand des Felsens, ließ die Beine einen Moment lang baumeln und sprang auf den Boden, wobei sie kurz auf den Knien landete, sich aber gleich wieder aufrichtete und ihm ins Gesicht blickte.
Als sie ihn so direkt ansah, war Carver überrascht. Er kannte diese Schülerin – jeder Polizist in der Stadt kannte Maggie Greene. Sie war das kleine Mädchen, das vor neun Jahren dem Sheriff gegenüber beharrlich geschwiegen hatte, in einem Fall, der wahrscheinlich das berühmteste Tötungsdelikt in den letzten zwanzig Jahren hier gewesen war. Die Polizei von Jackson hatte die Ermittlungen nicht übernommen, da das Verbrechen außerhalb der Stadt geschehen war, und deshalb war Carver nie im Haus der Greenes gewesen oder hatte dieses Mädchen als kleines Kind gesehen. Er kannte nur die Einzelheiten, die die Kollegen erzählt hatten, von denen einige selbst versuchten, die Fünfjährige zum Reden zu bewegen. Aber der einzige Satz, den sie bei den vielen Befragungen geäußert hatte, war anscheinend: »Ich habe das Recht, zu schweigen.«
Carver respektierte das. Nach all dem, was er so hörte, hatte Maggie Greene sich gut entwickelt – sie war eine der intelligenten Jugendlichen, die gute Noten hatten und sich von Schwierigkeiten fernhielten. Warum also war sie hier und versteckte sich im Wald?
Manchmal fingen die Schwierigkeiten aber auch erst in der Highschool an. Kindern, die in jungen Jahren traumatisiert wurden, gelang es oft, den Kopf über Wasser zu halten. Erst wenn sie in die Pubertät kamen, stürzte alles über ihnen ein.
»Welchen Kurs hättest du jetzt?«, fragte Carver.
»Geometrie.«
»Wer ist dein Lehrer?«
»Mrs Murdock.«
»Schreibt ihr eine Klausur oder so was?«
Maggie schüttelte den Kopf.
»Fühlst du dich krank?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Warum bist du dann nicht im Unterricht?«
Maggie sah zu Boden, ohne ihm zu antworten, und in der Reglosigkeit ihres Körpers konnte Carver einen Blick auf das erhaschen, was die Kollegen wohl vor neun Jahren erlebt hatten – ihre Fähigkeit, völlig zuzumachen, so als hätte sie eine Klappe heruntergelassen.
»Du willst es mir nicht erzählen, stimmt’s?«
Maggie rührte sich nicht und sagte kein Wort.
»Was sollen wir jetzt also tun?«
Den Blick immer noch gesenkt, hielt Maggie ihm langsam und mit herabhängenden Händen die Handgelenke hin, bereit, sich Handschellen anlegen zu lassen.
Carver vermutete, dass sie sich über ihn lustig machen wollte, doch irgendetwas an ihrer ergebenen
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