Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Befreiung in ihr auszulösen. Sie fragte sich,ob Mrs Murdock überhaupt wusste, was sie getan hatte, als sie einfach ein kleines Stück gelbes Papier auf Maggies Tisch legte und murmelte: »Ich habe deine Nachricht an mich gelesen … Tu mir den Gefallen und lies bitte auch meine Nachricht an dich.«
An der Straße blieb Maggie stehen, unschlüssig, wohin sie gehen sollte. Rechts wartete in zwei Meilen Entfernung das Büro ihres Vaters. Die Straße dorthin führte an Motels und Fast-Food-Restaurants vorbei, den Hügel hinab und über die Betonbrücke, die den Shannon River überquerte, und dann wieder hügelaufwärts auf den nördlichen Teil des College-Campus zu. Die meisten Schulbusse und Autos nahmen diese Route; sie würden an ihr vorbeifahren, und die Schüler würden ihr aus dem Fenster blöde Sprüche zurufen. Niemand ging zu Fuß von der Schule nach Hause – entweder fuhr man selbst mit dem Auto oder man wurde von einem Elternteil oder einem Freund abgeholt, oder man nahm den Bus bis ins Zentrum und stieg dort um. Laufen war seltsam.
Wenn sie nach links ging, könnte sie den meisten Blicken ausweichen und sich auf verschlungenen Wegen langsam dem College nähern, über Nebenstraßen, die am Waldrand, weißen Farmhäusern und baufälligen grauen Scheunen entlangführten. Nach einer Viertelmeile käme sie an der Gärtnerei vorbei, dann an der großen Festwiese und der Autowerkstatt, und danach lagen an diesem Weg nur noch ein paar alte Häuser, die als Antiquitätenläden firmierten. Eine Hängebrücke für Fußgänger führte ein Stück weiter südlich über den Shannon River, und von dort gelangte man über Fußwege zur Westseite des Campus, wo das Sportinstitut Seilgärten und Kletterwände hatte und ganz oben an dem Steilhang über dem Shannon eine Abseilstelle. Auf diesem Weg würde sie das Büro in etwa anderthalb Stunden erreichen.
Die alte Supertramp-CD ihres Vaters klang ihr in den Ohren,
Take the long way home … take the long way home,
als Maggie sich nach links wandte.
Gelbe Eichenblätter wehten über die Straße und wurden von ein paar Autos überfahren, die auf dem Weg zu ländlichen Abzweigungen und in Dörfer namens Brindleburg, Possum Hollow und Tinkerville waren.
Maggie legte die erste halbe Meile in sechs Minuten zurück und nickte grüßend einer Frau zu, die mit einem Tablett roter und rosafarbener Topfgeranien aus der Gärtnerei kam. Nach einer weiteren halben Meile war Maggie immer noch aufgeputscht vom Adrenalin in ihrem Blut, auch wenn der Rucksack ihr langsam in die Schultern zu schneiden begann. An das Gewicht der Latein-, Biologie- und Geometriebücher hatte sie nicht gedacht, als sie beschloss, die Strecke zu Fuß zu gehen, und an einem ruhigen, von Blauem Lattich und Goldrute gesäumten Straßenabschnitt warf sie ihren Rucksack unter einen Baum und machte eine Pause, um sich auszuruhen. Maggie fischte das kostbare gelbe Blatt aus der vorderen Hosentasche, faltete es auseinander und sah nach, ob die Wörter immer noch dieselben waren oder ob Schwarze Magie sie verändert hatte, bevor jemand anders sie lesen konnte.
Die Nachricht stand immer noch da, in ihrer ganzen nackten Schlichtheit. Zehn Wörter, die Maggies ruhelosen Geist aufwühlten:
Es war richtig, dass Deine Mutter Jacob Stewart getötet hat.
OPFER
13
Emma Greene lehnte sich hinter den Stapeln überquellender Papphefter in ihren Bürostuhl zurück und schloss die Augen.
Das unsichtbare junge Mädchen war also zurückgekehrt, und das nicht nur sichtbar, sondern auch lautstark und extrem nervtötend.
Sie hatte Maggies E-Mail fünfmal gelesen und die Worte nahmen erst jetzt langsam Gestalt an:
Hi Mom,
es ist was richtig Seltsames passiert, und ich muss Dich um einen Gefallen bitten. Ich habe Dir doch von meiner Mathelehrerin erzählt, oder? Ich weiß jetzt, warum sie mich so verwirrt hat. Es hat sich herausgestellt, dass Murdock ihr Ehename ist und sie eigentlich Sandra McCluskey heißt.
Wir haben gestern ein langes Gespräch geführt. Sie hat mir alles erzählt von vor neun Jahren, und dass es richtig von Dir war, uns gegen Jacob Stewart zu verteidigen. Jacob war anscheinend richtig gefährlich, und sie wollte sich schon lange für all die Lügen entschuldigen, die sie erzählt hat.
Könntest Du dieses Wochenende kommen, damit ich Dir alles erzählen kann, und würdest Du mit ihr sprechen?
Maggie
Herrje. Emma schüttelte den Kopf, als sie die Augen wieder öffnete. Wie zum Teufel konnte
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