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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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»Könnte ich ein Blatt Papier haben und etwas zum Schreiben?«
    Carver riss eine Seite aus seinem gelben Notizblock und reichte ihr einen Bleistift. Sie legte das Blatt auf einen der Tische, beugte sich darüber und schrieb rasch ein paar Worte. Nicht mehr als einen Satz oder zwei, soweit Carver sehen konnte. Dann faltete sie das Blatt dreimal und gab ihm den Bleistift zurück. Sie ging zu Maggie hin, murmelte ein paar Worte, die so leise waren, dass Carver sie nicht verstehen konnte, und legte die Notiz auf den Tisch des Mädchens.
    Und damit drehte Mrs Murdock sich um und verließ den Raum.
    Carver öffnete den Mund, um zu protestieren. Eigentlich erwartete er, dass die Lehrer ihre Schüler mit zurück in ihre Klassenzimmer nahmen. Maggie Greene gehörte in den Geometriekurs, nicht in den Schularrest. Aber vielleicht gehörte sie nicht in den Kurs von Sandra McCluskey.
    Carver sah das Mädchen an, während es das gelbe Papier anstarrte. Schließlich hob Maggie die Notiz grazil auf, genau so, wie er seine Tochter Jessie tote Schmetterlinge hatte aufheben sehen, mit Daumen und Zeigefinger. Maggie faltete das Blatt auseinander und las die Worte, und zu Carvers Bestürzung trat ihr das Wasser in die Augen, bis ihr zwei große Tränen die Wangen hinabrollten.
    Normalerweise hatte er kein Mitleid mit den Mädchen, die im Schularrest weinten. Selbst ein Mann der Show, wusste er nur zu gut um die manipulative Kraft von Tränen, und so hatte er jahrelang stoisch danebengestanden, wenn sie wegen Strafzetteln oder Ladendiebstahl oder Schulverweisen geweint hatten. Schülerinnen zum Weinen zu bringen war Teil seines Jobs.
    Aber die Tränen dieses Mädchens waren etwas anderes, weil sie ihr offensichtlich peinlich waren. Maggie wischtesie so schnell weg, wie sie kamen, bis Carver zu ihr ging und eine Schachtel mit Papiertaschentüchern auf den Tisch stellte.
    »Maggie«, sagte er und sprach ihren Namen zum ersten Mal aus, »ich kann mir ziemlich gut vorstellen, warum du deinen Mathekurs geschwänzt hast, und wenn du deinen Stundenplan ändern möchtest oder irgendetwas anderes, dann kann die Schule das arrangieren.«
    Maggie faltete das Blatt Papier wieder zusammen, steckte es sich in die vordere Hosentasche und schüttelte den Kopf. »Danke, schon gut. Kann ich jetzt gehen?«
    Es waren nur noch fünf Minuten bis zum letzten Klingeln.
    »Sicher.« Carver nickte.
    Als sie gegangen war, las er den Absatz, den sie zurückgelassen hatte.
    Wenn ich mit der Highschool fertig bin, möchte ich frei sein. Frei von der Gefangenschaft in diesem Gebäude. Frei von der Enge einer Kleinstadt, wo alle über die Angelegenheiten ihrer Nachbarn reden. Frei von den Blicken der Lehrer, Eltern und Fremden, die zu wissen glauben, was in meinem Kopf vor sich geht, obwohl sie gar nichts wissen. Ich möchte irgendwohin gehen, wo ich keine Vergangenheit habe und keinen Namen und wo keine Erwartungen auf mir lasten. Ich möchte noch einmal ganz von vorne anfangen.

12
    Als Maggie Officer Pettys Büro verlassen hatte, lief sie direkt zum Haupteingang der Schule, sie wollte unbedingt hinaus, ehe es klingelte. Sie sah sich einfach nicht imstande, tausend durch die Korridore wimmelnden Schülern entgegenzutreten, die alle ihr gerötetes Gesicht und ihre verweinten Augen anstarrten. Und sie könnte es auch nicht ertragen, wenn Kate sie bei der Schulter fasste und ausrief: »Oh Gott, was ist los?«
    Maggie holte noch auf dem Weg ihr Handy heraus und spähte vorsichtig die Korridore hinunter, ob auch kein Lehrer in der Nähe war.
    »Hey, Dad. Wie gut, dass ich dich erreiche. Kates Mom holt uns ab, ich fahre mit zu ihr nach Hause und komme dann zu Fuß in dein Büro. Okay? Ich bin um fünf Uhr da.«
    Noch mehr Lügen, noch mehr Schuldgefühle. Doch sie konnte auch ihrem Vater nicht entgegentreten, bevor sie über alles nachgedacht hatte. Wenn er sie jetzt so sehen würde, kurzatmig und mit rasendem Puls, würde er annehmen, sie sei wieder krank. Aber die Empfindung, die da durch ihre Adern schoss, rührte von keiner Krankheit her. Es war Aufregung und Verwirrung, zusammen mit einem Anflug von Hoffnung, was sie zwang, durch die Korridore hinaus aus der Schule zu laufen. Sie rannte schon quer über den Parkplatz, als das Klingeln ertönte, das den Schultag beendete.
    Wie grotesk, dass ausgerechnet die Frau, die in ihre Träume eingedrungen war und deretwegen sie sich auf den Schultoiletten und im Wald versteckt hatte, fähig gewesen war, dieses Gefühl der

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