Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Resignation ließ ihn lächeln.
»Ich glaube, die Handschellen brauchen wir heute nicht. Komm einfach mit.«
Maggie griff nach ihrem Rucksack und ging dann hinter ihm durch den Wald zurück zur Schule, wich den klebrigen Spinnennetzen aus, die Carver ins Gesicht bekam, und sagte nicht ein einziges Wort, bis er am Waldrand einen Zweig beiseiteschob und ihr den Weg frei hielt.
»Danke schön«, murmelte sie.
Dieses Mädchen war wirklich gut erzogen.
Fünf Minuten später hatte Maggie sich an einen Tisch in Carvers Klassenzimmer gesetzt. Sie war nicht die übliche Sorte Missetäter, doch er blieb bei seiner Routine. »Nimm ein BlattPapier heraus und schreib in fünf Sätzen auf, was du tun willst, wenn du mit der Highschool fertig bist.«
Jetzt war es an Maggie, die Arme vor der Brust zu verschränken. Sie hob die Augenbrauen und lümmelte sich in ihren Stuhl hinein, als wollte sie sagen: »Das soll wohl ein Scherz sein.«
»Du hast fünf Minuten Zeit.« Carver ging an seinen Schreibtisch und griff nach dem Hörer der Sprechanlage. »Mrs Murdock ist deine Lehrerin, hast du gesagt?« Maggie nickte. Carver suchte sich an seinem Anschlagbrett die Durchwahl heraus, dann drückte er ein paar Tasten der Sprechanlage.
»Mrs Murdock?«
Hintergrundgeräusche des Geometriekurses drangen durch das Knistern der Sprechanlage, und man konnte einen Schüler den Lehrsatz von der Dreiecksungleichung aufsagen hören:
In einem Dreieck ist die Summe der Längen zweier Seiten a und b stets mindestens so groß wie die Länge …
»Ja?« Die zögerliche Stimme einer Frau legte sich über die Geräusche.
»Hier ist Officer Petty. Würden Sie mich bitte auf meinem Handy zurückrufen?«
Die Sprechanlage verstummte, und dann hörte Maggie einen Klingelton, der wie Stevie Wonders Song ›Overjoyed‹ klang.
»Ja, ich habe eine Ihrer Schülerinnen hier bei mir im Büro. Maggie Greene. Das ist richtig … Ich habe sie im Wald hinter der Schule gefunden … Nein. Sie will mir nicht sagen, was los ist. Aber sobald es Ihnen möglich ist, sollten Sie herkommen und mit ihr sprechen, denke ich … Gut. Danke.«
Carver legte sein Handy weg. »Sie kommt in ein paar Minuten. Schreib weiter.«
Maggie sah nicht auf, aber Carver erkannte daran, wie ihr Stift zitterte, dass sie nicht gerade glücklich war. Wenn er hätte raten sollen, hätte er gesagt, dass das Mädchen Angsthatte, was ihm komisch vorkam. Er hatte Mrs Murdock erst ein einziges Mal getroffen, am Einführungsabend für die neuen Lehrer, und auf ihn hatte diese Mathelehrerin ganz und gar nicht einschüchternd gewirkt. Er erinnerte sich noch, dass er dachte, dieser Frau würde er ein paar Tipps geben müssen, damit die Schüler ihr nicht allesamt auf der Nase herumtanzten.
Ein paar Minuten später hörte er auch schon die leichten Schritte einer Frau im Korridor. »Officer Petty?«
»Kommen Sie herein.« Er stand vom Schreibtisch auf und ging auf Grace Murdock zu, um ihr die Hand zu schütteln. Herrgott, die Frau sah ebenfalls aus, als hätte sie Angst. Unstet wie ein Eichhörnchen, und die Hand kühl und feucht. Carver hatte manchmal diese Wirkung auf neue Lehrer, sie reagierten auf seine Uniform mit schreckhaftem Unbehagen. Aber als er sah, wie Mrs Murdock zu Maggie hinüberblickte, wusste er, dass es weder seine Dienstmarke noch sein Schlagstock waren und noch nicht einmal seine schwarze Hautfarbe, die hier ein Problem verursachten. Zwischen diesen beiden ging eindeutig etwas vor sich, aber er wusste nicht was, bis die Lehrerin sich von Maggie abwandte und Carver ins Gesicht blickte.
Das ist ja nicht zu fassen,
dachte er. Sandra McCluskey. Das College-Mädchen, das in die Tragödie der Familie Greene verwickelt war. Ein anderer Haarschnitt und ein neuer Name, aber dennoch Sandra McCluskey.
Wie hatte der Sheriff sie vor neun Jahren genannt?
Ein Sack voller Lügen.
Carver erinnerte sich noch, wie der Sheriff sich in Chief Millers Büro beschwert hatte: »Ich habe ein kleines Mädchen, das nicht reden will, und eine College-Studentin, die mit der Wahrheit nicht herausrückt.« Und jetzt waren die beiden gemeinsam hier an der Jackson Highschool.
Carver saß an seinem Schreibtisch und tat so, als wäre er in Büroarbeiten vertieft, beobachtete aber sorgfältig jede Bewegung der beiden. Mrs Murdock sah Maggie einen Momentlang an, während das Mädchen die Augen auf den Tisch gerichtet hielt und die eingeforderten Sätze schrieb. Dann trat die Lehrerin auf Carver zu.
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