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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Gericht gestritten hätte? Zehn Jahre lang hatte er ihre bittersten Bemerkungen ertragen und schweigend die verbalen Angriffe hingenommen, die sie bei ihren Wutanfällen aus tiefer Frustration über ihre Ehe, die Elternschaft und Probleme mit ihrer College-Laufbahn hinausgeschleudert hatte. Einmal, als Maggie und sie gleichzeitig einen Wutanfall bekamen, hatte Rob die Augen verdreht und gefragt: »Wer von euch beiden ist eigentlich das Kind?« Eine Bemerkung, die Emma ihm nie ganz verziehen hatte. Und sie hatte auch nie vergessen, wie prüfend Rob sie betrachtet hatte, als sie ihm zum ersten Mal ihre Begegnung mit Jacob Stewart schilderte, und dann die Sekunden des Zögerns, bis er ihr versicherte, dass es richtig war, was sie getan hatte. Nein   – sie hätte nie einen Sorgerechtsstreit gegen einen Mann gewinnen können, der sie so gut kannte.
    Emma fragte sich, ob Maggie wusste, wie schwer es ihr gefallen war, auszuziehen   – wie sehr all ihre Instinkte dagegen rebelliert hatten. Als sie beschloss, einen Job in Washington, D.   C., anzunehmen, hatte Emma die Wochen davor damit zugebracht, Maggie zu versichern, dass sie sie nicht verlassen würde. Während des Schuljahrs würde Maggie jeden Monat ein Wochenende in Washington verbringen, und Emma würde mit derselben Regelmäßigkeit nach Jackson kommen.Und im Sommer könnte Maggie dann sechs Wochen lang in Emmas Eigentumswohnung im Stadtteil Dupont Circle wohnen und die ideale Mischung aus Stadt- und Landleben genießen. In Jackson könnte sie in den Bergen wandern gehen, Kajakfahren lernen und auf eine der kleinen, sicheren Schulen mit großen, üppig grünen Spielplätzen gehen. In Washington könnte sie Museen, Konzerte und Festivals besuchen und jede Sorte Essen ausprobieren. Klang das nicht wunderbar?
    Aus der Rückschau betrachtet, hätte Emma sich wohl gar nicht so viel Mühe geben müssen, den Schock ihres Auszugs abzumildern, denn Maggie zeigte keinerlei Anzeichen von Traurigkeit oder Angst, als ihre Mutter ihre Kleidung und Bücher in Kartons verpackte. Emma hatte heimlich einen der Stoffbären ihrer Tochter ganz unten in ihrem Koffer verstaut, während Maggie draußen im Garten spielte, weil sie etwas brauchte, an dem sie sich nachts festhalten konnte, etwas, das nach dem Haar und der lieblichen Haut ihrer Tochter roch. Und als sie später dann ihre Sachen ins Auto lud und Maggie ihr von der Veranda aus zusah, hatte Emma den Eindruck, dass ihre unergründliche Tochter vor allem ein Gefühl der Erleichterung ausstrahlte. Oder war es doch nur Emmas Schuldgefühl, das ihr den Blick trübte?
    Rob schwor danach monatelang, dass Maggie ihre Mutter vermisste, dass sie zwei Wochen lang in Robs Bett schlief, nachdem Emma ausgezogen war, nicht weil sie ihrem Vater nahe sein wollte, sondern weil Emmas Geruch noch in den Laken hing. Er hatte gesehen, wie Maggie ein Foto von Emma aus dem Familienalbum nahm und es unter ihr Kissen legte, und manchmal sah Rob sie im Bett liegen und es ansehen.
    Emma selbst fiel auf, dass die Kette, die sie Maggie bei deren erstem Besuch in Washington geschenkt hatte, auch drei Wochen später noch, als Emma sie in Jackson besuchen kam, um den Hals ihrer Tochter hing.
    »Sie nimmt sie nie ab«, erklärte Rob. Neugierig geworden, schenkte Emma Maggie am nächsten Tag ein Armband und einen Monat später noch einen Ring und beobachtete, wie jedes dieser Schmuckstücke zu einem festen Bestandteil ihrer Tochter wurde. Und Emma hoffte, dass so ihre Liebe den Hals, das Handgelenk und die Finger ihrer Tochter berührte, auch wenn sie Maggies Herz noch nicht wieder erreichen konnte.
    Jetzt schenkte Emma ihrer Tochter nur ein paar magere Worte:
    Du kannst etwas irgendwann am Samstag ausmachen. Ich komme Freitagabend nach Jackson.
    Es klopfte an Emmas Tür, und ihre Assistentin Ruth steckte den Kopf herein. »Ich sollte Ihnen Bescheid sagen, wenn Maria Cortez da ist.«
    »Ja.« Emma schaltete ihren Computer aus und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Vergangenheit war ein tiefer Brunnen, in den sie oft kopfüber hineinfiel, und es dauerte immer einen Augenblick, bis sie ihren geistigen Halt wiederfand. Sie betrachtete das Büro um sich herum   – eierschalfarben gestrichene Betonwände, ein dünner brauner Teppich, der an den abgewetzten Teddybären eines Kindes erinnerte, ein Holztisch und metallene Aktenschränke, gestiftet von den Privatschulen in Washington. Wieder ein Mittwochnachmittag im North Capitol Center, Washingtons größtem

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