Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Zufluchtsort für Frauen und Kinder, und die zierliche Frau, die da zögernd durch ihre Tür hereintrat, war eine von Emmas Stammgästen.
Maria Cortez war fünfundzwanzig Jahre alt, sah aber aus wie sechzehn mit ihrem langen schwarzen Zopf und dem Kleid im Empirestil, das lose über eine gestreifte Leggings fiel. Jedes Mal, wenn Emma Maria sah, musste sie an eine schöne Puppe denken, kaum einen Meter sechzig groß, mit mokkafarbener Haut und Augen wie Ahornsirup. Aber Maria war die Puppe eines unachtsamen Besitzers; einmal war sie mit einem gebrochenen Arm in Emmas Büro erschienen,ein andermal mit Brandwunden von Zigaretten. Heute kam sie mit einer aufgesprungenen Lippe und einem blauen Auge, das von Tränen glitzerte, als Emma sie zärtlich in die Arme schloss, bemüht, ihre blauen Flecken nicht zu drücken.
»Ich bin froh, dass Sie hier sind. Setzen Sie sich doch.«
Emma zeigte auf das blaue Sofa ihrem Schreibtisch gegenüber, das sogenannte »Seelentröstersofa«, auf dem schon Hunderte von misshandelten Frauen ihre Geschichten erzählt oder auch geschwiegen hatten, ganz so, wie sie wollten. Emma glaubte an die heilende Kraft des Wortes, aber sie wusste auch um den Wert des Schweigens, wenn sie nur still dasaß und der Frau die Hand hielt.
»Er hat gesagt, er bringt mich um, wenn ich noch mal herkomme«, murmelte Maria.
»Glauben Sie, dass er diese Drohung ernst meint?«, fragte Emma und dachte bereits daran, dass sie Maria dann morgen in ein kleines anonymes Frauenhaus schicken musste, dessen Adresse an niemanden herausgegeben wurde.
»Wahrscheinlich schon.« Maria nickte. »Aber es macht mir nichts mehr aus. Ich habe es so satt, soll er es doch tun. Ich mache mir nur solche Sorgen um Christian.«
Christian war Marias zehnjähriger Sohn, das Kind eines Kindes, mit einem namenlosen Vater und einem brutalen Stiefvater – ein Junge, dessen Wohlergehen ganz von dieser kleinen, alles erduldenden Frau abhing, die einst davon geträumt hatte, Krankenschwester zu werden, dann aber die Highschool abgebrochen hatte, weil sie schwanger wurde, und nun stundenweise als Putzfrau arbeitete.
»Ich bin hier, weil Carlos sich jetzt auf Christian konzentriert.«
Emma nickte.
Konzentrieren.
Ein Lieblingswort in ihrem früheren Leben. Ihr Essay sollte sich stärker auf seine These konzentrieren. Sie schweifen ab, Sie müssen sich besser konzentrieren. Warum konzentrieren Sie sich nicht auf Ihr Hauptargument?
Für Maria Cortez war »konzentrieren« ein Euphemismus für Schlagen, Treten, Ohrfeigen und außerdem für Brandwunden. Ihr Mann Carlos war fasziniert von verkohlter menschlicher Haut, was er manchmal an sich selbst auslebte, indem er sich mit glimmenden Streichhölzern groteske Flecken an Armen und Beinen zufügte. Doch noch häufiger »konzentrierte« er sich auf Maria. Emma warf einen Blick auf Marias Leggings und fragte sich, welche Schrecken sich darunter verbargen. Als sie die damals zweiundzwanzigjährige Frau zum ersten Mal traf, lag Maria im Krankenhaus mit Verbrennungen dritten Grades an den Armen, die offenbar von einer Pfanne voll heißem ausgelassenem Speck stammten.
»Wo ist Christian jetzt?« Aus jahrelanger Erfahrung wusste Emma, dass die Mütter sich nie sicher fühlten, wenn ihre Kinder nicht außer Gefahr waren. Zu oft schon hatte sie Frauen zu gewalttätigen Männern zurückkehren sehen, die unter dem Schutzschild der Vaterschaft ein Kind als Geisel genommen hatten.
»Christian ist bei meiner Schwester Christina. Sie ist seine Patentante.«
»Sie wohnt im selben Haus wie Sie, oder?«
Maria schüttelte den Kopf. »Christina ist zu ihrem Freund gezogen.«
»Wo wohnen die beiden?«
»Ein Stück die Straße runter.«
»Kennt Carlos die Adresse?«
Maria nickte schweigend.
Emma seufzte. »Christian sollte auch hier sein, zusammen mit Ihnen, damit Sie auf ihn aufpassen können und wissen, dass es ihm gut geht.«
Maria starrte ihre Hände an. Dieses Gespräch hatten Emma und sie früher schon geführt. Die junge Frau wollte nicht, dass ihr Sohn seine Mutter in einem Heim für obdachlose und misshandelte Frauen sah – und dass sich in seinGedächtnis das Bild eingrub, wie die Bewohnerinnen in der Cafeteria mit orangefarbenen Plastiktabletts in Händen auf ihre Portion grüne Bohnen oder gekochtes Hähnchen warteten, die jüngeren mit Make-up im Gesicht, um die blauen Flecken zu verdecken, während ein paar der älteren, psychisch kranken Frauen laut über Syphilis und Gonorrhoe vor sich
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