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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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wenig Mondlicht. Der Sheriff, der sich ihr angeschlossen hatte, leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Krone hinauf. »Klettert sie?«
    »Manchmal«, erwiderte Emma.
    »Hat sie irgendwelche Lieblingsbäume außer diesem hier?«
    »Die Eiche dort drüben.« Emma zeigte auf den Baum, als sie beide aus der Magnolie hervortraten. »Und die große Weide am Bach.«
    »Die sehe ich mir mal an«, sagte der Sheriff. »Danach suchen wir im Wald.«
    Emma sah zum Wald hinüber, als der Sheriff wegging, und meinte, ganz kurz etwas Weißes aufblitzen zu sehen, wie ein Glühwürmchen. Der Wald wäre der letzte Ort, wo sie Maggie vermutete   – so schwarz und furchteinflößend und weit weg von zu Hause. Und dennoch, da war es wieder, dieses kurze Aufblitzen von Weiß. Langsam überquerte sie die Wiese und rief: »Maggie, bist du dort drinnen?   … Hab keine Angst, Liebling   … Es ist alles wieder gut.«
    Am Rande des Waldes schob sie einen Hartriegelstrauch beiseite und entdeckte ein paar mehr weiße Flecken, einigeHundert Meter vor sich. »Maggie?« Immer noch barfuß lief Emma auf Zehenspitzen über die Zweige und Blätter am Boden. Ohne Taschenlampe war sie schnell von Finsternis umgeben, nur dünne Streifen Mondlicht fielen durch die Baumkronen. Doch es war genug, um das weiße Nachthemd ihrer Tochter auszumachen, das immer größer wurde, je näher Emma kam.
    Als sie Maggie erreichte, rannte das Mädchen nicht auf sie zu, es stand auch nicht auf. Maggie blieb an den Baum gelehnt sitzen, das Nachthemd über die Knie gezogen in dem fragilen Versuch, sich einen Schutz zu schaffen. Das Mädchen hob den Kopf lange genug von den Knien, um ihrer Mutter in die Augen zu sehen, und Emma kniete sich vor sie hin. »Oh Maggie, es tut mir so leid«, sagte sie und sah schon in diesem Augenblick voraus, dass es ihr noch viele Jahre lang leidtun würde   – dass ihre Tochter alles hatte mit ansehen müssen, dass sie nicht sofort nach dem Notruf in ihr Zimmer geeilt war, dass ihr fünfjähriges Kind sich eine traumatisierende halbe Stunde lang im Wald versteckt hatte. Welchen endlosen Strom des Schmerzes würde das nach sich ziehen?
    Emma hob das stumme Mädchen auf, das die Wange auf die Schulter seiner Mutter legte, und zusammen verließen die beiden den Wald.

14
    Emma starrte auf Maggies E-Mail , blind für die Worte, sie sah nur das weiße Nachthemd, das ihre fünfjährige Tochter über die knochigen Knie gezogen hatte. Sie verspürte kein Verlangen danach, Sandra McCluskey wiederzusehen   – keinen Wunsch, der Frau gegenüberzutreten, deren Lügen ihr Leben verpfuscht hatten. Es hatte sie Jahre gekostet, die Trümmer zu beseitigen und nach und nach wieder etwas aufzubauen und zu vergessen, doch die Wut schwelte noch immer unerbittlich in ihr. Wenn sie Sandra gegenübertreten musste, dann durfte Maggie bei dieser Begegnung auf keinen Fall dabei sein. Und doch wusste Emma, dass sie Maggie nichts abschlagen konnte; ihre Tochter hatte sie um so gut wie nichts gebeten in den letzten neun Jahren.
    Nach jener traumatischen Nacht schien Maggie ihre Mutter nicht mehr belasten zu wollen, sie bat um nichts und war stets besonders gehorsam. In den Monaten nach Jacobs Tod hatte Emma Maggies plötzliche Vorliebe für Sauberkeit und ihr sofortiges Zubettgehen zur Schlafenszeit als Zeichen der Angst angesehen. Die kleinen Splitter von Rebellion, die dem Mädchen geblieben waren, richteten sich alle gegen ihren Vater: Nein, sie kam nicht vom Spielplatz, wenn Rob rief. Nein, sie ging nicht in die Badewanne, wenn er sie darum bat. Doch was Emma anging   – sie musste nur kaum die Augenbraue heben, und schon gehorchte Maggie.
    Gehorsamkeit war nicht der Zug an einem Menschen, den Emma am meisten schätzte. Sie wollte keine ängstliche Tochter aufziehen, die sich leicht von Lehrern, Freunden undEhemännern einschüchtern ließ, und so erklärte sie sich ein paar Jahre später, als ihre Ehe nur noch ein Bündel abgerissener Fäden war, damit einverstanden, Rob das Sorgerecht zu überlassen. Wenn Maggie erst einmal aus dem Schatten ihrer Mutter heraus war, würde sie vielleicht lernen, sich durchzusetzen.
    Emma hatte noch andere Gründe, einem Sorgerechtsstreit aus dem Weg zu gehen   – vor allem die Gewissheit, dass sie gar nicht gewinnen konnte. Welcher Richter hätte schon einer Mörderin das Sorgerecht zugesprochen? Und welche hässlichen häuslichen Geheimnisse wären darüber hinaus zum Vorschein gekommen, wenn sie sich mit Rob vor

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