Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf. Als sie die Zimmertür ihrer Tochter aufschob, sah sie das leere Bett, das offene Fenster und die Strickleiter. »Maggie!« Sie lehnte sich aus dem Fenster und spähte in die Rhododendronbüsche hinunter. »Maggie, wo bist du?« Emma rannte an dem Deputy vorbei, der ihr bis an die Zimmertür gefolgt war. »Meine Tochter«, murmelte sie, als sie die Treppe wieder hinuntereilte und um die Sanitäter herum, die Jacob auf eine Trage geschnallt und mit einer Infusion, einer Sauerstoffmaske und einer Cervikalstütze versehen hatten.
Emma lief die Stufen der Veranda hinunter und suchte mit Blicken das Grundstück nach rechts und nach links ab. »Maggie!« Zwei weitere Polizeiautos waren eingetroffen, sodass es nun insgesamt vier waren, und sie erkannte den Sheriff Albert King, der erst noch seinen Hut zurechtrückte, ehe er seine schwere Gestalt aus dem Fahrersitz hievte. Ihre Auffahrt glich einem Jahrmarkt mit all den sich drehenden Lichtern, und Emma wandte sich von den vielen Menschen ab und rannte auf das kleine weiße Gästehaus hinter den Eichen am anderen Ende der Auffahrt zu. Maggie benutzte das Gästehaus manchmal als Spielplatz, deshalb rannte Emma dort hinein und suchte im Wandschrank, unter dem Bett und hinter dem Wohnzimmersofa. Sie sah sogar in die Schränke der kleinen Küche, weil sie Maggie dort einmal bei einem Versteckspiel hineingezwängt gefunden hatte. Aber diesmal fand sie nichts. Emma rannte wieder hinaus und weiter zum Bach hinunter.
Im Mondlicht wirkte das Wasser so friedlich, und sein silbriges Schimmern und die murmelnde Strömung bildeten einen angenehmen Kontrast zu den grellen Farben und den schroffen Worten beim Haus. Doch Emma wusste, wie gefährlich der Bach sein konnte mit seinen tiefen Stellen, indenen jedes Kleinkind schnell ertrinken konnte. Als Maggie noch ganz klein war, war Emma mit ihr durchs Wasser gewatet, hatte Steine angehoben, um ihr die rückwärtskrabbelnden Flusskrebse zu zeigen, und hatte ihre Tochter nie weiter als bis auf Armeslänge von sich weggehen lassen. Jetzt konnte die fünfjährige Maggie schwimmen, und bei Tageslicht erkundete sie den Bach allein, während Emma von der Veranda aus zusah. An den meisten Tagen war das Wasser ein zuverlässiger Freund, aber heute Nacht war nichts sicher.
Emma stand auf dem länglichen Felsen, auf den Maggie sich gern mit einem Küchensieb hockte, um kleine Fische einzufangen. »Komm raus, Maggie!«
Als sie sich umdrehte, sah sie den freundlichen Deputy mit Sheriff King herankommen. »Vermisstes Kind«, hörte sie ihn sagen.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte der Sheriff, als Emma von dem Felsen stieg und im Gras flussaufwärts ging.
»Sie ist fünf.«
»Glauben Sie, dass sie weggelaufen ist?«
»Sie muss Angst bekommen haben.«
»Aus dem Fenster ihres Zimmers«, erklärte der Deputy, »hängt eine Strickleiter heraus.«
»Sagen Sie Sensabaugh, er soll eine Suche starten«, erwiderte der Sheriff. »Und setzen Sie auch diese Jungs ein.« Er zeigte auf die drei Teenager, die immer noch oben beim Haus standen und zusahen. »Als Erstes der Bach und die Straße. Danach der Wald.«
Binnen sechzig Sekunden streiften die drei Jugendlichen am Bach entlang, während zwei Deputys die Straße abgingen und mit Taschenlampen in den Graben am Rande des Asphalts hineinleuchteten. Unterdessen war der Sheriff ins Haus gegangen, um noch mit den Sanitätern zu reden, ehe der Krankenwagen Jacob abtransportierte. »Rufen Sie die Dekanin an«, sagte er zu dem Deputy neben sich. »Sie muss die Eltern verständigen. Sagen Sie, es hat einen Unfall gegebenund ein Student wurde mit einem Baseballschläger am Kopf verletzt. Keine weiteren Details, nur das. Und erzählen Sie ihr, dass er ins Krankenhaus von Jackson gefahren wurde, aber höchstwahrscheinlich noch mit dem Hubschrauber in die Universitätsklinik in Charlottesville geflogen wird. Und fragen Sie, ob sie die Telefonnummer und Adresse von diesem Kyle Caldwell hat. Fletcher soll den auftreiben.«
»Verdammt, ich habe hier draußen nirgends ein Signal.« Der Deputy steckte sein Handy wieder ein. »Wo steht der Festnetzapparat?«
Draußen suchte Emma weiter nach Maggie, an allen Lieblingsverstecken – in dem Hohlraum unter der vorderen Veranda und in dem breiten Schlupfwinkel hinter dem Traktor im Sperrholzschuppen. Sie sah unter die Äste der riesigen Magnolie, die zeltartig bis auf den Boden hingen. Durch das dichte Laub drang nur
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