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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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»Direktor«. Ihre offizielle Berufsbezeichnung lautete »Heimleiterin«, aber sie hatte den Schriftzug nie austauschen lassen, weil sie »Direktor« ganz passend fand. Das North Capitol Center war in einer ehemaligen Grundschule untergebracht, einem zweistöckigen Backsteingebäude mit weißen Säulen am Haupteingang und einer halbrunden Buchsbaumhecke, die einen zehn Meter hohen Mast umschloss, an dem die Kinder des Heims jeden Tag die Flagge hissten und wieder einholten. Die Schule hatte vor fünf Jahren eigentlich abgerissen werden sollen, um Platz zu schaffen für neue Eigentumswohnungen, doch noch ehe die Baufirmen anrücken konnten, war der Bürgermeister von Washington eingeschritten. Aufgrund der wirtschaftlichen Rezession war der Anteil der Obdachlosen an der Bevölkerung auf zwanzig Prozent gestiegen, und der Bürgermeister hatte unter großem öffentlichem Druck gestanden, daraufzu reagieren. Die Zehn-Millionen-Dollar-Spende eines anonymen ehemaligen Schülers ebendieser Grundschule hatte schließlich genug bürgermeisterliches Mitgefühl erkauft, dass nun Pläne verkündet wurden, die alte Schule solle in ein Obdachlosenheim umgebaut werden.
    Die Nachbarn hatten erbittert protestiert. North Capitol war ein Stadtteil, der großem Wandel unterworfen war, noch hin- und hergerissen zwischen Gentrifizierung einerseits und städtischer Verelendung andererseits. Man hatte auf schön herausgeputzte Wohnanlagen gehofft, und nicht auf ein Heim für Penner und Drogensüchtige, die überall auf dem Grundstück herumlungern und sich wie Läuse auch in dem sie umgebenden Wohngebiet ausbreiten würden. Die lautstärksten Nachbarn hatten sich mit der Immobilienfirma zusammengetan, die den Neubauplan umsetzen wollte, und ein Triumvirat von Anwälten angeheuert, die damit drohten, das Heimprojekt auf unabsehbare Zeit zu blockieren.
    Zu diesem Zeitpunkt trat Emma auf den Plan. Vor ihrem Wechsel zum North Capitol Center hatte sie fünf Jahre lang erst als stellvertretende Leiterin und dann als Leiterin in Kelly’s House gearbeitet, einem Zwanzig-Betten-Heim für misshandelte Frauen, das in einer großen viktorianischen Villa am Rande des Stadtteils Adams Morgan untergebracht war. Die Zeitschrift ›Mother Jones‹ hatte Kelly’s House in einem Artikel als ein Vorzeigeheim beschrieben, in dem nicht nur Sauberkeit und Mitgefühl herrschten, sondern das auch eine hervorragende Erfolgsquote vorweisen konnte bei der Vermittlung eigener Wohnungen und fester Jobs an seine Bewohner. Daraufhin hatte die ›Washington Post‹ Emma als vielversprechende Interessensvertreterin des Gemeinwesens gefeiert, was ihr eine Auszeichnung beim alljährlichen Abendessen des Bürgermeisters für die Leiter gemeinnütziger Einrichtungen einbrachte und einen Sitz im Ausschuss für Sozialdienste.
    Letztlich war es auch Emma gewesen, die den Bürgermeisterdavon überzeugt hatte, dass man das North Capitol Center den Nachbarn sicher schmackhafter machen könnte, wenn man es ausschließlich Frauen und Kindern widmete. Und damit wäre der Bürgermeister auch moralisch auf der sicheren Seite. Welcher Anwalt würde schon auf CNN auftreten und gegen einen sicheren Hafen für misshandelte Frauen wettern wollen?
    Den Nachbarn stellte Emma die Idee als ein Projekt der Hilfe zur Selbsthilfe für Frauen vor. »Wir haben ein Haus der Barmherzigkeit vor Augen«, hatte sie auf öffentlichen Anhörungen gesagt, »eine sichere, saubere Einrichtung mit einer Kindertagesstätte und Aktivitäten nach der Schule, damit die am stärksten gefährdeten Kinder unserer Stadt nicht den gefährlichen Einflüssen der Straße ausgesetzt sind.« Sie hatte ihre Reden mit weichen weiblichen Wörtern wie »Mütter«, »Großmütter« und »Babys« gespickt und versprochen, dass dies ein weiteres Vorzeigeheim werden sollte, in dem Frauen Zugang zu medizinischer Versorgung und gesundem Essen haben würden. Und die meisten Arbeiten rund um das Haus würden von den Bewohnern selbst geleistet, die sauber machen, kochen und das Grundstück pflegen würden.
    Der Bürgermeister war stillschweigend davon ausgegangen, dass Emma das neue Heim leiten würde, auch wenn sie das nie gesagt hatte. Ihr gefiel es in Kelly’s House, in dem alle Bewohnerinnen in einem großen Esszimmer an zwei runden Tischen gemeinsam aßen. Adams Morgan war ein lebendiges Viertel voll schöner, leicht heruntergekommener Wohnhäuser und alter Stadtvillen mit schiefen Holzveranden, auf denen sich an den Sommerabenden

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