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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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die Familien versammelten und über die Luftfeuchtigkeit lamentierten. Eine kubanische Tapas-Bar war nur zwei Blocks entfernt, und brasilianische, thailändische und äthiopische Lokale waren gut zu Fuß zu erreichen.
    Verglichen damit lebten in North Capitol mehr ältere und mehr weiße Leute, und es wirkte langweiliger. Zwei Monatelang war Emma von Tür zu Tür gegangen, hatte Broschüren über erfolgreiche Frauenheime in anderen Städten verteilt und dabei immer wieder gespürt, dass ihre weiße Hautfarbe das Passwort war, das ihr in diesen Backsteinreihenhäusern zehn Minuten auf dem Wohnzimmersofa verschaffte. Genau wie der Bürgermeister nahmen auch die Bewohner an, dass sie mit der zukünftigen Heimleiterin sprachen. Emmas Bereitschaft, die Stelle zu übernehmen, war schließlich zu einer Voraussetzung für die Zustimmung der Leute geworden. Und je länger Emma in die Augen der Frauen und Männer schaute, desto stärker fühlte sie sich verpflichtet, ja hatte sie das Bedürfnis, ihnen zu versichern, dass dieses Heim keine Bedrohung für ihr soziales Ansehen bedeutete. Viele hier hatten geradezu eine Bunkermentalität   – Ehepaare in Rente klammerten sich verzweifelt an die Ehrbarkeit des Mittelstandes, den sie durch harte körperliche Arbeit errungen hatten, waren misstrauisch einer jungen Generation gegenüber, die nur noch vor dem Bildschirm hockte, und ganz besonders auf der Hut vor den farbigen Familien ein paar Blocks entfernt, wo die Zwölfte Straße die Grenze zwischen weißer Abstiegsparanoia und schwarzem Aufstiegsehrgeiz bildete.
    »Ein Heim für Frauen wird Ihrem Viertel nicht schaden«, hatte Emma den Leuten von North Capitol versprochen. Die Bewohnerinnen würden sich besser benehmen als die lärmenden Fünft- und Sechstklässler der Grundschule, die nach dem Unterricht durch die Straßen gezogen waren und Klingelstreiche gemacht hatten.
    Man könnte eine Ecke der Rasenfläche zu einem Garten umwandeln, in dem die Bewohnerinnen dann Gemüse anbauen. Man könnte die Küche der Cafeteria nutzen, um die geernteten Nahrungsmittel zuzubereiten, und zweimal in der Woche könnte man Kochkurse anbieten. Außerdem würde die Bibliothek mit Büchern, Zeitschriften und alten Computern aus den Verwaltungsbüros der Bezirksregierung bestückt, und ehrenamtliche Helfer würden Lese- und Schreibunterrichterteilen, Geschichten vorlesen und die Kinder bei ihren Hausaufgaben unterstützen. Die Bibliothek war Emmas Lieblingsargument, und sie sprach mit der Begeisterung der einstigen Literaturprofessorin, wenn sie die Nachbarn bat, doch auf jeden Fall ausgelesene Bücher zu spenden.
    Von Woche zu Woche schmückte Emma ihre Vision vom idealen Heim mit noch mehr Merkmalen des gehobenen Mittelstandes aus, einschließlich Kompostierung im Garten, Kunsttherapie und einem Treffen des Buchclubs alle zwei Wochen. Natürlich murrten die Nachbarn immer noch   – ein Frauenheim würde die Immobilienpreise nicht gerade in die Höhe treiben. Doch Emma wies mit großer Ruhe darauf hin, dass gerichtliche Schritte das Projekt lediglich verzögern könnten. Denn wegen der anonymen Spende von zehn Millionen Dollar war klar, dass schließlich ein Heim eingerichtet werde. Das Viertel aber würde mit einem Frauenheim vermutlich besser zurechtkommen als mit einem gewöhnlichen, von Männern dominierten Obdachlosenheim.
    Was Emma öffentlich nicht ansprach, auch wenn sie es nur zu gut wusste, war, dass selbst in einem Heim für Frauen Männer auftauchen würden, meistens nachts   – Ehemänner, die um ein Uhr morgens nach ihren Frauen riefen, trügerisch reumütig und voller Liebesschwüre und Versprechen, sich ändern zu wollen. Ihre zuckersüßen Fassaden erinnerten Emma oft an Jacob Stewart, obwohl sie versuchte, ihre Gedanken zu disziplinieren und ihr heutiges Urteil nicht von der Last der Vergangenheit überschatten zu lassen. Doch es war unmöglich, nicht an Jacob zu denken, wenn sie sah, wie die Mienen der Männer sich verdüsterten, sobald sie verstanden, dass Emma ihre Lügen durchschaute und entschlossen war, sie nicht hereinzulassen. Sie hatte in Kelly’s House schon etliche Verwandlungen von Jekyll zu Hyde miterlebt, und die anhaltenden Drohungen wurden durch die verzerrten Gesichtszüge im gelborangen Straßenlicht nur noch grässlicher. Normalerweise stellte Emma sich mit vor der Brustverschränkten Armen auf die Eingangsstufen vor dem Haus, flankiert von zwei jungen ehrenamtlichen Helfern aus den Colleges der Stadt.

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