Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Kontaktverbot zu erwirken. Doch als sie ins Heim zurückkam, hatte Maria ihre kleine Einkaufstasche mit Kleidern bereits gepackt und war nach Hause gegangen.
»Ist ihr Spind desinfiziert?«, fragte Emma. Wie die meisten Heime führte auch das North Capitol Center für Frauen einen nie endenden Krieg gegen Läuse und Bettwanzen.
»Ja«, sagte Martha.
»Und der für Christian auch, wenn er kommt?«
»Natürlich.«
»Sie sind ein Engel.« Emma schloss Martha in die Arme und trat dann einen Schritt zurück, überrascht, dass die Frau errötete.
»Was wollen Sie tun, wenn Carlos auftaucht?«, fragte Martha.
»Sergeant Rodriguez hat gesagt, dass er die Nacht hier verbringt«, erwiderte Emma. »Er weiß, was zu tun ist.«
Martha lächelte. »Sergeant Rodriguez ist Ihr spezieller Freund, stimmt’s?«
Jetzt war es an Emma, zu erröten.
»Das ist ein guter Mensch, der Polizist, den Sie da haben.« Martha sprach, ohne den Blick von den Handtüchern zu heben, die sie zusammenlegte.
»Ja«, sagte Emma. Junot Rodriguez war ein sehr guter Mensch.
15
Als Emma in ihr Büro zurückkam, saßen Ruth und Maria auf dem Sofa und aßen Kürbiskuchen.
»Maria würde gern eine der Nähmaschinen benutzen«, sagte Ruth, »und einen Schlafanzug für Christian nähen.«
»Gute Idee.« Emma nickte. »Martha wird Ihnen helfen.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: halb sechs. Noch zwei Stunden, bis Junot Feierabend hatte und ihr ein Take-away vom Thailänder brachte. Nicht mehr genug Zeit, um mit der Metro nach Hause zu fahren und ausgiebig zu duschen und zu entspannen, ehe sie zurückkommen musste, aber noch genug, um sich auf dem Sofa auszustrecken, die Augen zu schließen und ein paarmal tief durchzuatmen.
»Wenn Sie Maria in Zimmer 209 hinaufbringen«, sagte sie zu Ruth, »stecke ich mein Telefon aus und lege mich hin. Sollte ich um sieben noch nicht wieder ans Telefon gehen, kommen Sie mich bitte wecken.«
Als sie das Licht ausgeschaltet hatte und nur noch die Abendsonne durch die Fenster hereinfiel, holte Emma zwei Decken und ein Kissen aus ihrem Wandschrank und drapierte sie auf dem Sofa. Dann zog sie ihre grauen Stiefeletten aus, setzte ihre rote Lesebrille ab, die sie, ins Haar hochgeschoben, fast vergessen hätte, legte sich hin und starrte an die Decke. Hellbraune Blumenkohlröschen breiteten sich darauf aus, die wie jede gesunde Vegetation bei üppigem Regen aufblühten und sie an den Fleck auf dem Flurläufer in ihrem Haus am Wade’s Creek erinnerten. Sie rollte sich auf die Seite und versuchte, sich das Herbstlaub in Jackson vorzustellen:die Ahornbäume, deren rote, orangefarbene und grüne Blätter so intensiv leuchteten wie das Wassereis der Kinder im Sommer, die karminroten Blätter des Hartriegels, die herabfielen wie … nein, sie würde nicht an Blutstropfen denken … nur wie herabfallende Blätter eben.
Emma schloss die Augen und zwang sich, die Farben Grün, Blau und Braun heraufzubeschwören, die Farben des Lebens, der Gesundheit und des Wachstums, bis ihre Gedanken bei Junot Rodriguez’ schöner dunkler Haut ankamen, die einen so starken Kontrast bildete zu ihren porzellanweißen Armen mit den vielen Sommersprossen. Aber auch damit konnte sie der Vergangenheit nicht entkommen, weil Junots Teint sich nach und nach vermischte mit dem sonnengebräunten Gesicht von Jacob Stewart, als er sterbend in ihrem Schoß lag. Und sie wusste noch, wie sie dort in ihrem Flur hockte und dachte, dass in diesem Moment irgendwo dort draußen, und ihr völlig unbekannt, eine Mutter mit dunklen Augen einen sehr schönen Sohn verlor.
Es war sinnlos, sich der Vergangenheit zu verweigern. Maggies E-Mail hatte ihr alle Beteiligten von vor neun Jahren wieder ins Gedächtnis gerufen. Nach weiteren fünf Minuten der scheiternden Versuche, das alles zu vergessen, gab Emma auf und beschloss, ganz genau hinzusehen.
Zuerst dachte sie an den Deputy mit den sanften Augen, dem sie den Spitznamen Märchenprinz gegeben hatte – weil auf seinem Namensschild »Prinze« stand. Er hatte Maggie in eine Decke gewickelt, sobald Emma mit ihr das Haus erreicht hatte, und eine Kanne Kaffee gekocht. Eine Stunde später, als Rob dann zu Hause war und auf Maggie aufpassen konnte, hatte der Märchenprinz Emma auf die Wache des Sheriffs gefahren, wo sie ihre offizielle Aussage machen sollte. Emmas Anwalt, Jed Christianson, wartete schon bei der Bezirkspolizei auf sie und riet ihr, nachdem sie ihm in groben Zügen geschildert hatte, was
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