Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
ein schwieriges Problem nachdachte. »Das Ganze ist kaum zu glauben. Ich meine, Jacob Stewart ist so ein guter Student. Er ist Mitglied der Studentenvertretung und der Fußballmannschaft. Ich kann einfach nicht glauben, dass er so etwas tut.«
Diese Worte hörte Emma in den kommenden Monaten wieder und wieder –
Es ist kaum zu glauben! Ich kann es nicht glauben! Absolut unglaublich!
–, und jedes Mal schwang darin eine Anklage mit, die Andeutung, dass
sie
nicht glaubwürdig war.
Jodie griff nach ihrer Handtasche. »Ich muss noch einpaar Telefonate führen und mich dann auf den Weg in die Uniklinik machen.«
»Schadensbegrenzung«, murmelte Emma.
»Ja.« Jodie nickte. »Schadensbegrenzung.«
Nachts um halb drei fuhr Jed Emma nach Hause und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, er glaube nicht, dass der Sheriff Strafanzeige erstatten werde. Albert King ging in dieselbe Kirche wie er, und der Anwalt drückte es so aus: »Al und die meisten seiner Deputys haben Ehefrauen, die in diesem Augenblick auch allein zu Hause sind, einige von ihnen sogar mit kleinen Kindern. Wenn ein Betrunkener an ihre Haustür käme und versuchte, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen, würden diese Polizisten wollen, dass ihre Frauen genau das tun, was Sie getan haben. Jede Wette.«
Jed fuhr Emmas Auffahrt hinauf, wo immer noch ein Streifenwagen stand, und sie sah einen Deputy aus dem Küchenfenster spähen. Rob kam aus dem Gästehaus und legte Emma noch auf der Auffahrt einen Arm um die Schulter, während Emma das gelbe Polizeiband anstarrte, mit dem die Verandastufen des Wohnhauses abgesperrt waren.
»Keine Sorge«, sagte Jed. »Das ist reine Routine. Morgen Abend können Sie schon wieder in Ihren eigenen Betten schlafen.«
»Ich habe den Sheriff überredet, uns für den Moment im Gästehaus wohnen zu lassen«, sagte Rob.
Jed lächelte. »Die Regeln der Kleinstadt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Rob.
»In einer Großstadt«, erklärte Jed, »würde die Polizei nach einem Totschlag niemals jemanden auf dem Grundstück wohnen lassen, auf dem sich die Tat ereignet hat. Aber Al King hält sich an die Regeln der Kleinstadt.« Jed wandte sich an Emma. »Dass er Sie das Gästehaus benutzen lässt, zeigt, dass er Ihnen vertraut.«
Rob dankte ihm und führte Emma hinein. »Ich mache dir einen Kamillentee.« In der winzigen Küche des Gästehausesgab es einen kleinen Herd mit zwei Kochplatten, auf dem er Wasser zum Kochen brachte, während Emma die Bücherregale im Wohnzimmer betrachtete und dachte, dass die gerahmten Familienfotos seltsam angeordnet waren.
»Sie haben sich hier umgesehen, bevor sie mich hereinließen«, erklärte Rob, »und so gut wie jeden Gegenstand in der Hand gehabt.«
Emma griff nach einem Foto und versuchte, sich zu erinnern, wo es hingehörte.
Alles ist so falsch jetzt
.
»Wie geht es Maggie?«, fragte sie und drehte sich zur Tür des Schlafzimmers um.
»Sie ist vor einer Stunde eingeschlafen. Hat nicht ein Wort gesagt über das, was passiert ist.« Rob gab Emma einen Becher Tee und zog einen Stuhl neben ihren an den kleinen runden Tisch. »Ich verstehe es selbst nicht richtig.«
Und so erzählte Emma zum fünften Mal in dieser Nacht die vollständige Geschichte, einschließlich aller Einzelheiten ihrer Suche nach Maggie und wie sie ihre Tochter mit dem Nachthemd über die Knie gezogen im Wald gefunden hatte. Das Wiedererzählen schien zu Emmas Fegefeuer geworden zu sein; sie war Coleridges »alter Matrose«, der Mörder eines lebenden Geschöpfs, der dazu verdammt war, seine Geschichte ewig zu wiederholen. Nur eines tröstete sie, nämlich dass Rob nie sagte: »Ich kann es nicht glauben.« Er glaubte alles nur zu bereitwillig, denn er stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte schon immer Vorurteile gegen die Studenten von Holford gehegt. In seinen Augen waren sie reich und überheblich und nur allzu geneigt, einen Professor herauszufordern, der ihren privilegierten Lebensstil in Frage stellte.
»Diese miese Brut«, murmelte Rob vor sich hin, als Emma von den beiden die Treppe herunterkommenden Studenten erzählte, und hielt erst inne, als sie die plötzliche Wut beschrieb, die sie antrieb, mit dem Baseballschläger auf Jacob Stewart einzuschlagen, zuerst auf seine Knie, dann auf seinenKopf. Als Emma merkte, wie ihr Mann sie mit zusammengekniffenen Augen musterte, senkte sie ihren Blick und fragte sich, welche hässlichen Erinnerungen ihm wohl gerade durch den Kopf gingen. »Was du getan
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