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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Brodie
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Ihre Taktik hing von der Geschichte des prügelnden Mannes ab. Oft reichte eine Zurechtweisung, um diese Männer nach Hause zu schicken; aber gelegentlich, wenn sie ein Vorstrafenregister hatten oder bekannt war, dass sie eine Waffe trugen, verriegelte Emma Türen und Fenster, sobald sich Schwierigkeiten abzeichneten, rief die Polizei und wies ihre Bewohnerinnen an, sich auf den Boden zu legen, um sich vor Scherben zu schützen, sollten Steine oder Pistolenkugeln die Fensterscheiben zerschlagen. »Tornado-Alarm« nannte sie diese seltenen Vorkommnisse. »Sieht aus, als hätten wir einen Sturm vor unserer Tür. Einen Hurrikan namens Rodney.«
    Als sie für das neue Heim warb, hatte Emma nicht geahnt, dass die respekteinflößende Fassade eines Schulgebäudes dazu beitragen würde, Probleme solcher Art zu minimieren. In den folgenden Jahren machte sie die Erfahrung, dass Männer, die ohne jeden Skrupel an die Tür eines alten Wohnhauses hämmerten oder versuchten, durch Fenster im ersten Stock einzusteigen, nur widerwillig eine öffentliche Institution betraten. Der Flaggenmast, die weißen Säulen, die schwere metallene Tür, der mit Linoleum ausgelegte Korridor dahinter, das Büro der Heimleiterin in unmittelbarer Nähe   – all das rief bei ihnen einschüchternde Erinnerungen an die eigene Schulzeit wach.
    Seit der Öffnung des Heims hatten sich nur drei Männer draußen herumgetrieben und krakeelt, aber selbst da hatte das Gebäude sie abgewehrt. Sie hatten keine Ahnung gehabt, wo ihre Ehefrau oder Freundin untergebracht war   – und an welcher Hausseite sie schreien sollten   –, und waren sich auch nicht sicher gewesen, ob ihre Stimmen überhaupt durch diese dicken Backsteinwände drangen. Die Männer, die es einmal versucht hatten, kamen normalerweise kein zweites Mal mehr.
    Als Emma jetzt den Korridor entlanglief, fühlte sie sich wie eine Mutter Oberin, die ein mittelalterliches Nonnenkloster betreute. Vor achthundert Jahren hätte ihr diese Rolle sicher gefallen, wenn sie denn mit dem Zölibat zurechtgekommen wäre. Fast zweihundert Frauen und siebzig Kinder wohnten innerhalb dieser Mauern, zehn Prozent mehr, als Emma erwartet hatte. »Wenn Sie es aufmachen, werden sie kommen«, hatte sie zum Bürgermeister gesagt. Aber sie hatte nicht vorausgesehen, wie groß der Andrang sein würde und wie viele Frauen sie in andere Einrichtungen weiterschicken musste. Manche Beobachter beklagten, dass Emma das North Capitol Center zu einem allzu gemütlichen Heim gemacht hatte; und in einem Leitartikel der ›Washington Times‹ wurde sie beschuldigt, eine verbitterte geschiedene Frau zu sein, die Familien zerstöre und andere Frauen ermuntere, ebenfalls ihre Ehemänner zu verlassen. Die Anschuldigungen waren natürlich lächerlich. Wie sollte das Wohnen in einer Grundschule jemals gemütlich werden, in Feldbetten, zu zwölft in einem Klassenzimmer, mit einem einzigen Spind für die ganze Habe einer Frau? Sie hatte eine Erwiderung geschrieben, in der sie die Behauptung dieser Verleumder, sie würde es den Frauen zu leicht machen, ihre Ehemänner zu verlassen, mit spitzer Feder aufgriff: »Wenn ein Mann seiner Frau die Rippen bricht, wer würde es ihr da noch schwer machen wollen, ihn zu verlassen?«
    Mütter mit kleinen Kindern hatten oberste Priorität im North Capitol Center, und als Emma jetzt an den offenen Türen des alten Kindergartenraums vorbeikam, sah sie, dass neben dem Feldbett jeder Frau ein Kinderbettchen oder eine Wiege stand. Das war die Kinderstube des Heims für Frauen mit Babys, die jünger waren als zwei Jahre. Wenn die Kleinen nachts aufwachten, konnten die Frauen mit ihnen über den Korridor in den Aufenthaltsraum der Lehrer gehen, der neu ausgestattet worden war mit Sofas, Schaukelstühlen zum Stillen und einem Herd, auf dem sie Milchfläschchen wärmenkonnten. Im Aufenthaltsraum stand einer der wenigen Fernseher des Heims. Im Allgemeinen war Emma dagegen, doch sie erinnerte sich noch an die durchwachten Nachtstunden in Maggies ersten Lebensmonaten, als sie im dunklen Wohnzimmer umherlaufend versuchte, ihre Tochter in den Schlaf zu wiegen, und Gott für die nächtlichen Wiederholungen von ›Law & Order‹ dankte, die mit gedämpfter Lautstärke in der Ecke flimmerten.
    Emma lief eine der Treppen hinauf, an den ehemaligen Klassenzimmern vorbei und bis ans andere Ende des Gebäudes. Das war der sicherste Platz im Heim, in der zweiten Etage. Zu hoch, als dass jemand durchs Fenster hätte sehen

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