Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
passiert war, nicht zu schweigen. Seiner Einschätzung nach, sagte er, handele es sich in ihrem Fall umeinen gerechtfertigten Totschlag, um den legitimen Akt einer gesetzestreuen Mutter, die ihr Kind vor betrunkenen Eindringlingen schützen wollte.
»Vor dem Gesetz ist Ihr Haus Ihre Trutzburg«, hatte Jed erklärt. »Es ist der Ort, wo Sie als Privatperson am angreifbarsten sind und wo Sie das Recht haben, sich selbst zu verteidigen. Der Sheriff weiß, dass Sie jemanden getötet haben, aber er hat Sie nicht über Ihre Rechte belehrt. Er behandelt diesen Fall also nicht als Verbrechen. Sollten die Fragen, die man Ihnen stellt, an irgendeinem Punkt darauf schließen lassen, dass man in Ihnen eine Tatverdächtige sieht, werde ich die Befragung abbrechen.«
Während der Stunde, die Emma auf der Wache verbrachte, waren der Sheriff und seine Deputys überraschend galant gewesen, vermutlich weil sie die einzige Frau in einem Gebäude voller Männer war und noch dazu in so akkuraten Professorensätzen sprach, dass ihre Aussage wohl die eloquenteste Prosa war, die sie je getippt hatten. Im Nachhinein fragte sie sich allerdings, ob das nicht doch nur vorgetäuscht gewesen war, ob Sheriff King sie auf diese Weise hatte überzeugen wollen, dass er ein durch und durch sympathischer Mensch sei. War das eine übliche Methode, um Frauen zum Reden zu bringen?
Als Emma mit ihrer Geschichte fertig war, hörte sie eine vertraute hohe Stimme auf dem Korridor – den unablässigen Wortschwall, der die Dekanin des Holford Colleges Jodie Maus stets umgab. Emma mochte Jodie. Sie schätzte ihre unbändige Energie, ihre forsche Kompetenz, die gut zu ihrem braunen Bubikopf und ihrer zierlichen Gestalt passte, neben der sogar Emma groß wirkte. Einige der älteren Professoren hatten ihr den Spitznamen »das mächtige Mäuschen« verpasst und machten Witze darüber, wie flink sie doch durch die Labyrinthe der Verwaltung flitzte. Aber Emma lachte nicht mit, sondern fragte sich nur, welche subtilen Verunglimpfungen sie hinter
ihrem
Rücken flüstern mochten.
Jodie, die normalerweise immer tadellos gekleidet war und sich ihre Garderobe weit weg vom provinziellen Jackson kaufte, trug Tennisschuhe und eine Trainingshose unter ihrer knielangen Kamelhaarjacke. »Emma?«, sagte sie, als Deputy Prinze sie in den Raum führte. »Was machen Sie denn hier?«
»Es ist bei mir zu Hause passiert«, erwiderte Emma.
Jodie runzelte die Stirn. »Warum hat Jacob Stewart nachts bei Ihnen zu Hause Baseball gespielt?«
Emma starrte in ihre Handflächen. »Es war kein Spiel.«
Jed stand von seinem Stuhl auf. »Ich hole mir einen koffeinfreien Kaffee. Möchten Sie beide auch einen?«
Emma nickte. »Danke.«
»Für mich mit Koffein«, sagte Jodie.
»Emma«, flüsterte Jed ihr ins Ohr, bevor er ging. »Sie können Jodie gern alle grundlegenden Fakten schildern, die Sie der Polizei genannt haben. Aber falls irgendetwas anderes aufkommt – irgendetwas Neues, an das Sie sich auf einmal erinnern –, sollten Sie zuerst mit mir sprechen, okay?«
Als die beiden Frauen allein waren, setzte Jodie sich neben Emma. »Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Jacob wurde schon mit dem Hubschrauber in die Uniklinik in Charlottesville geflogen. Sie sagen, dass sein Zustand kritisch ist und er die Nacht womöglich nicht überleben wird. Seine Mutter fliegt von Philadelphia hierher. Sie ist Witwe und Jacob ist ihr einziges Kind, das wird also ganz besonders hart werden für sie. Ich werde ihr genau erklären müssen, was passiert ist.«
Emma spürte, dass diese Befragung sehr viel schwieriger werden würde als die der Polizei. Jodie war Mutterglucke von dreitausend Studenten, von denen Emma einen angegriffen hatte, und das katapultierte sie aus der Schutzzone des Holford Colleges hinaus.
»Jacob tauchte um halb elf herum im Garten hinter meinem Haus auf, zusammen mit Kyle Caldwell und einer Studentin, die ich letztes Semester im Seminar hatte, aber an deren Namen ich mich nicht erinnern kann. Sie trankenBier.« Langsam wiederholte Emma die Fakten, die sie schon der Polizei erzählt hatte: wie sich ein freundliches Gespräch in eine Konfrontation verwandelt und wie sie gedroht hatte, Kyle wegen Diebstahls vom College werfen zu lassen. Dann beschrieb sie die Kraft, mit der Jacob seine Schulter gegen die Tür drückte und schließlich in ihr Haus hereindrängte, wie er mit den Fingern ihr Haar berührte, das Schwingen des Baseballschlägers und das Bild seines Kopfes auf
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