Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
sich zu ihrer Mutter umzudrehen.
»Kann ich einige Zutaten und eine Pfanne aus der Küche holen?«, fragte Emma den Sheriff.
Er nickte. »Ich begleite Sie.«
Zehn Minuten später waren sie wieder im Gästehaus, und der Sheriff machte sich am Küchentisch Notizen, während Maggie Emma half, Mehl und Milch abzumessen und in eine Schüssel zu geben. Schweigend schlug Maggie die Eier auf und rührte den Teig; schweigend goss sie ihn in die gefettete Bratpfanne, wobei Emma ihr die Hand führte; und schweigend ordnete sie in dem hellen, dickflüssigen Kreis zehn Schokoblättchen zu einem Gesicht mit leicht gezwungenem Lächeln an. Doch bei all dem vergaß Maggie nie, dass sie durchs Fenster der kleinen Küche draußen einen großen Fremden sehen konnte, der mit einem Pinsel wie dem von ihrer Mutter fürs Rouge eine Schicht feinen Staubs auf die vordere Veranda des Hauses strich. Weiße Wölkchen stoben bei jedem Schritt auf, während die hin- und herwedelnde Hand des Fremden sich langsam das Verandageländer hinaufarbeitete.
Dann klopfte es an der Tür des Gästehauses. Deputy Prinze, der den ganzen Vormittag über noch nicht zu sehen gewesen war, stand draußen.
»Ich suche Sheriff King«, sagte er, als Rob ihm geöffnet hatte, und weil er King am Tisch noch Notizen machen sah, hielt er mit einer behandschuhten Hand eine Dose Budweiser hoch. »Die habe ich unten am Bach gefunden.«
Albert King stand auf und folgte Prinze nach draußen.
Das Telefon des Gästehauses klingelte, und Rob nahm ab. »Es ist Jodie. Willst du sie sprechen?«
»Klar.« Emma nahm das Telefon mit ins Schlafzimmer.
»Ich bin im Krankenhaus.« Jodies Stimme klang angespannt. »Jacob ist vor ein paar Minuten gestorben.«
Emma sackte aufs Bett und schloss die Augen, überrascht von dem Schauer, der sie am ganzen Körper überlief. Sie hatte schlechte Nachrichten erwartet und schon gespürt, dassJacobs Leben davonglitt, als sein Kopf in ihrem Schoß lag. Doch ein Teil in ihr – der emotionale, spirituelle, verzweifelt hoffende Teil – hatte sich an die Illusion geklammert, dass alles irgendwie doch noch gut werden könnte. Die Ärzte würden das, was sie angerichtet hatte, wieder in Ordnung bringen, Jacob würde genesen und zu einem gesunden Erwachsenen heranwachsen und alle Erinnerung an die Gewalt würde verblassen. Sie würde wieder zurückkehren zu den regelmäßigen, vorhersehbaren Abläufen der akademischen Welt, und die letzte Nacht wäre nur noch eine schmerzhafte Anomalie in einem ansonsten ganz von Normalität geprägten Leben. Doch nun, da Jacob gestorben war, konnte nichts mehr in Ordnung gebracht werden. Die Endgültigkeit des Todes hatte eine Wand zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufgerichtet.
»Und es gibt noch ein Problem«, fuhr Jodie fort. »Jacobs Mutter hat mit Kyle Caldwell gesprochen, und er hat ihr anscheinend erzählt, dass Sie Jacob angegriffen hätten, ohne provoziert worden zu sein. Ihm zufolge hat Jacob sich nicht in Ihr Haus hineingedrängt, und er hat auch keine Auseinandersetzung wegen eines Diebstahls erwähnt. Soweit Mrs Stewart weiß, haben die Studenten bei Ihrem Haus nur angehalten, um nach dem Weg zu fragen, und Sie sind mit Jacob in irgendeinen Streit geraten.«
Emma seufzte. »Das ist gelogen, Jodie. Kyle und Sandra lügen beide. Der Sheriff ist hier und hat mir das alles schon erzählt. Er hat einen Mann kommen lassen, der gerade Fingerabdrücke nimmt, die beweisen werden, dass Kyle und Sandra überall im Haus gewesen sind. Diese Geschichte werden die beiden nicht lange aufrechterhalten können.«
»Das ist gut. Je schneller es sich klärt, desto besser. Aber ich muss Sie warnen, Jacobs Mutter gehört nicht zu den still Leidenden. Stewart muss ihr Ehename sein, denn sie ist irgendwie griechischer oder armenischer Abstammung. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie aufgebracht undrachsüchtig sie ist. Ein Reporter vom ›Daily Progress‹ aus Charlottesville treibt sich hier herum, und Mrs Stewart hat Kyles Geschichte ein ums andere Mal wiederholt, als wäre sie ein Evangelium. Sie fordert quasi Ihren Kopf, auf einem Pfahl aufgespießt.«
»Wie hat die Presse so schnell davon erfahren?«, fragte Emma.
»Schnell ist was anderes. Es ist über zehn Stunden her, seit ich den ersten Anruf aus dem Büro des Sheriffs bekommen habe. Zeit genug für die Studenten, es all ihren Freunden und Familien zu mailen. Mittlerweile steht es wahrscheinlich unter der Rubrik Campusklatsch auf jeder
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