Stirb für mich: Thriller
heiße Kartoffeln, den Landsleuten, die ihre Loyalität mit ihrem Blutzoll bewiesen hatten, einfach den Rücken zukehren?
Selbst nach siebenunddreißig Jahren im ISI konnte Amir nicht behaupten, die inneren Mechanismen des gesamten Dienstes zu durchschauen, doch das für ihn entscheidende eigene Terrain kannte er sehr gut.
CIA und MI 6 hätten sich gewundert, dass pensionierte ISI -Offiziere ihre Macht und ihren Einfluss wahren konnten, doch für Amir Jat war es einfach der normale Lauf des Lebens. Er kontrollierte nach wie vor große Summen Geld und hatte nach zweiunddreißig Jahren in der Abteilung Joint Intelligence North mächtige Verbindungen zu den afghanischen Taliban, Al-Qaida und Lashkar-e-Taiba. Warum sollte sein Beschäftigungsverhältnis da irgendeine Rolle spielen? Er war immer noch derselbe Mann mit demselben scharfen Verstand, und die Anhäufung von Macht war sein Lebenswerk.
Der Spezialagent kam auf die Veranda. Jat stand nicht auf, sondern nippte an seinem abgekochten Wasser und wartete. Obwohl der Agent sich der Bombe bewusst war, die er mit seiner Neuigkeit zünden würde, erstattete er ruhig und sachlich Bericht: D’Cruz war überstürzt nach London aufgebrochen, weil seine Tochter entführt worden war.
Amir Jat war ohnehin ein stiller Mann, doch diese Nachricht versetzte ihn in einen Zustand intensivierter Regungslosigkeit, die der Agent sofort als gesteigertes Interesse durchschaute. Er kannte Amir Jats enorme Selbstbeherrschung. Schon vor dem D’Cruz-Job, als es in seinen Berichten um Tote und Verletzte, Verhöre und Stammesfehden gegangen war, hatte nichts bei Jat auch nur einen Funken Entsetzen ausgelöst. Aber diese Entwicklung im Leben von Frank D’Cruz ließ seinen Puls schneller schlagen, sein durchdringender Blick wurde noch bohrender, Hunderte kleiner Muskeln bauten unter dem Adrenalinschub eine Spannung auf, die Jat die linke Lehne seines Stuhls packen ließ.
»Quellen?«, fragte er.
Der Agent wusste, dass eine nie reichte.
»Zum ersten Mal Wind von der Sache bekommen habe ich gestern Nachmittag durch meinen Kontaktmann beim indischen Research and Analysis Wing. Ein Agent des britischen MI 6 hatte nachgefragt, ob es Elemente innerhalb des pakistanischen Geheimdienstes gebe, die für die Entführung verantwortlich sein könnten. Und wenn ja, ob sie damit in irgendeiner Weise Druck auf D’Cruz ausüben wollen.«
»Und von wem noch?«, fragte Jat, den man einfach nicht beeindrucken konnte.
»Anwar Masood war gestern in Karatschi. Dort hat er Generalleutnant Abdel Iqbal getroffen, der mich dann gebeten hat, Nachforschungen anzustellen«, sagte der Agent. »Anwar Masood ist der Chef von D’Cruz’ inoffiziellem Sicherheits…«
»Ich kenne Anwar Masood. Er ist ein Gangster«, schnitt Jat ihm das Wort ab. Sein Verstand lief auf Hochtouren. »Was noch?«
Daran war der Agent gewöhnt. Jat gab ihm nie ein größeres Bild oder einen Zusammenhang. Er erhielt nur spezifische Anweisungen. Neugier galt als verdächtig. Deshalb musste er immer etwas zurückhalten, um sich Jats Aufmerksamkeit zu bewahren und sicherzustellen, dass er eingeladen wurde wiederzukommen.
»Da war noch eine Sache«, sagte der Agent, »aber ich möchte nicht darüber sprechen, weil das Bild noch unvollständig ist. Ich erwarte einen finalen Bericht aus Mumbai.«
»Erzählen Sie.«
»Ich habe nur eine Quelle.«
»Und die wäre?«
»Die Polizei.«
»Ja, und wir wissen ja, wie verlässlich die ist.«
»Eine Bestätigung durch den indischen Geheimdienst wird dauern.«
»Erzählen Sie.«
»Heute Nacht wurde ein britischer Agent erschossen.«
»Wo?«
»In Mumbai, im Dharavi-Slum.«
»Wer hat ihn erschossen?«
»Die Polizei verhört einen von Anwar Masoods Männern.«
»Heißt das, er war dafür verantwortlich?«
»Das ist noch unklar. Die bei der Tat verwendete Schusswaffe wurde bisher nicht gefunden.«
»Warum sollte Anwar Masood auf einen britischen MI 6-Mann losgehen?«
Das war der Punkt, an dem der Spezialagent beschloss, den Informationshahn zuzudrehen. Man musste Amir Jat immer mit einer Frage zurücklassen, die er mit seinem unaufhörlich berechnenden Verstand hin und her wenden konnte.
»Das Ganze ist vor wenigen Stunden passiert. Mein Kontaktmann bei der Polizei hat mich eben erst angerufen. Ich weiß nur, dass Anwar Masoods Männer auf eine rivalisierende Bande getroffen sind und der Engländer getötet wurde. Was er dort gemacht hat, ist nicht bekannt.«
»Und die rivalisierende
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