Stirb für mich: Thriller
schickt dich auf einen eng eingegrenzten Weg. Hol Alyshia zurück. Nie irgendwem zu viel erzählen, sonst macht er sich am Ende ein eigenes Bild und entwickelt Ambitionen, die seine eigenen Fähigkeiten übersteigen«, sagte Isabel. »Das ist zumindest seine Theorie.«
Sie erreichten das Embankment und folgten dem langen schwarzen Band des Flusses, das sich durch die Stadt schlängelte. In dem dichten Verkehr kamen sie nur stoßweise voran, eingeklemmt zwischen Fahrzeugen, in denen man die vagen Umrisse anderer Menschen ausmachen konnte. Boxer sah in ihr unbewegtes Gesicht und fragte sich, ob aus ihrer Geschichte etwas Dauerhafteres werden würde; er wünschte es sich, aber gleichzeitig fürchtete er sich vor dem, was in ihm heranwuchs, auch wenn er froh war, dass es jenes Gefühl der Leere überdeckte, das sich genauso leicht in seiner Brust ausdehnen konnte.
»Erzähl mir von Frank«, sagte er auf der Suche nach Hinweisen, aber auch, um sie von ihrer wachsenden Nervosität abzulenken. »War er anders, als du ihn kennengelernt hast?«
»Früher habe ich das geglaubt, aber jetzt nicht mehr«, sagte Isabel. »Erst als ich mich von ihm befreit oder so weit gelöst hatte, wie ich es überhaupt konnte, erkannte ich seinen wahren Charakter, der im Kern seines Wesens wahrscheinlich schon immer da war. Es ist seltsam mit den Menschen …«
Ihre Stimme verlor sich. Isabel schien in die Betrachtung ihres gespenstischen Spiegelbilds in der Scheibe vertieft.
»Was?«, riss Boxer sie zurück in die Gegenwart.
»Stärke zieht uns unwiderstehlich an«, sagte Isabel. »Das Traurige am Gutsein ist seine Fadheit. Das Böse hat die Macht, außerordentliche Gefühle zu provozieren. Nicht der öde Alltag fasziniert uns, sondern die Erregung des Extremen.«
»Und du?«
Sie blickte ihn in der Dunkelheit an. Im Licht der Laternen, das immer wieder kurz hereinfiel, sah er ein Auge, eine Wange, eine Nase, einen Mund.
»Ich?«, fragte sie. »Ich glaube, ich war in dem Punkt ziemlich klar. Oder meintest du eigentlich dich?«
»Na gut, was siehst du in mir?«
»Du hattest eine traumatische Kindheit. Dein Vater hat dich, als du noch sehr jung warst, verlassen, während ein schrecklicher Vorwurf über ihm und damit zwangsläufig auch über dir schwebte. Das sollte reichen, um im Leben jedes Menschen einen bleibenden Schatten zu hinterlassen. Andererseits widerfahren vielen Menschen furchtbare Dinge, ohne dass sie alle zu düsteren Persönlichkeiten werden. Du hast den nächsten Schritt gemacht, das weiß ich. Ich will gar nicht wissen, was du getan hast, du warst im Krieg, also hast du wahrscheinlich Menschen getötet, aber das war vor zwanzig Jahren. Jetzt hast du irgendetwas an dir, das ich nicht mehr in einem Mann gesehen habe seit, nun ja, Chico.«
»Hast du deswegen seit Frank keine Beziehung mehr mit irgendjemandem gehabt?«
»Glaubst du wirklich, dass ich mich nach dem Zusammensein mit Chico zu meinem Nachbarn, diesem aalglatten Banker, hingezogen fühlen könnte?«, fragte sie abschätzig. »Ich habe es versucht, einfach einem normalen Menschen zu begegnen, und ob du es glaubst oder nicht, es hat meine Seele ausgetrocknet. Ich habe es nicht über mich gebracht, einen solchen Mann auf den Mund zu küssen. Es wäre gewesen, als hätte man das Leben durch den Tod ausgetauscht.«
»Und bei Alyshia?«
»Das habe ich lange zu leugnen versucht«, sagte Isabel. »Ich sehe in Alyshia, was ich in mir selbst sehe. Ich habe diesen Julian nie kennengelernt, aber ich habe ein Foto von den beiden gesehen und erkannt, dass er böse war und sie sich an ihn verloren hatte. Ich war entschlossen, den Kreis zu durchbrechen. Und ich wusste, dass in Mumbai irgendetwas passiert war, das sie emotional noch stärker verändert hatte als ihre Erfahrung mit Julian. Nach Julian dachte ich, sie könnte gerettet werden. Nach Mumbai hatte ich Angst, dass sie verloren war, aber ich habe nicht aufgegeben. Ich habe immer noch versucht, für sie eine normale Beziehung zu arrangieren, sogar noch vor ein paar Tagen, am letzten Sonntag, was sich jetzt anfühlt wie in einem anderen Leben.«
»Glaubst du, dass das Problem in Mumbai etwas mit Deepak Mistry zu tun hatte?«
»Ja, er hat mir Sorgen gemacht. Deepak war wie Chico. Er hatte nicht sein Charisma, aber gerade deswegen war er noch gefährlicher«, sagte Isabel. »Chico lebte unter Menschen, die sich von seinem Charisma nährten. Deepak war ein Einzelgänger.«
Kurz vor der London Bridge verließ Boxer die
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