Stirb für mich: Thriller
März 2012, 19.45 Uhr,
London, unbekannter Ort
E rzähl mir von Hackney. Erzähl mir von London Fields«, sagte die Stimme. »Du könntest überall in London leben. Notting Hill, Chelsea … nein, das ist vielleicht ein bisschen zu erwachsen für dich. Was ist Besonderes an Dalston, Broadway Market? Warum willst du dort wohnen, Alyshia?«
»Was bekomme ich für die Beantwortung dieser Frage?«
»Das ist keine Frage. Das ist eine Unterhaltung. Wir lernen uns gegenseitig kennen.«
»Sie haben mir die Regeln erklärt. Ich halte mich bloß daran. Sie geben mir Belohnungen. Nichts ist umsonst, haben Sie gesagt.«
»Du bist ein zähes kleines Luder, Alyshia«, sagte die Stimme herablassend. »Sag mir, was du willst.«
Sie wollte unbedingt etwas sehen. Sie hielt die permanente Orientierungslosigkeit im Dunkeln nicht mehr aus. Etwas sehen zu können würde ihr ein Gefühl von Macht verleihen. Es würde ihr Möglichkeiten eröffnen.
»Ich möchte duschen«, sagte sie.
»Nein, eine Dusche ist sehr teuer. Du brauchst eine Menge Bonusmeilen, ehe du duschen darfst«, antwortete die Stimme. »Aber ich sag dir was. Du darfst die Schlafmaske abnehmen, wenn du dich nett mit mir unterhältst.«
»Ich wohne in Hackney, weil ich ein ganz normaler Mensch sein will. Ich möchte Freunde treffen, die mich mögen, weil ich bin, wie ich bin. Sie wissen wahrscheinlich nicht, wie es ist, reich geboren zu werden.«
»Es muss schrecklich, schrecklich hart sein«, sagte die Stimme spöttisch. »Wahrscheinlich härter, als in einem Slum in Mumbai zu leben, ohne Strom und sauberes Wasser, mit Scheiße, die über die Straße fließt, Ratten, die nicht anklopfen.«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, wie es ist, ein vollkommen abgeschottetes Leben zu führen. Nie Gelegenheit zu haben, aus Erfahrungen zu lernen, weil es keine gibt.«
»Und wie bist du dann so nett geworden?«, fragte die Stimme aggressiv. »Woher hast du diese besondere Einsicht?«
»Von meiner Mutter.«
»Auch eine komfortabel abgesicherte Person mit privilegiertem Hintergrund. Ich nehme an, sie hat dich gezwungen, auf ungepolsterten Stühlen zu sitzen?«
»Sie hat mich über die Mauern blicken lassen.«
»Oh, wie niedlich , Alyshia. Die Gefängnismauern des Reichtums. Ja, wir wissen alle, wie hoch und dick die sind«, sagte die Stimme. »Das ist nicht sehr überzeugend. Es fällt mir schwer, Mitleid mit dir aufzubringen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, Sie um Ihr Mitleid gebeten zu haben«, erwiderte Alyshia. »Sie haben gefragt, warum ich in Dalston wohne. Ich habe Ihnen gesagt, dass es mich von meinem familiären Hintergrund befreit. Dort bin ich nicht die Tochter eines Milliardärs. Das ist eine Riesenerleichterung. Ich werde behandelt wie alle anderen auch. Ich werde gemocht oder gehasst, weil ich bin, wie ich bin.«
»Das ist so ein Blödsinn«, entgegnete die Stimme. »Wenn du gesagt hättest, du wohnst in Dalston, weil Duane und Curtis in der Nähe wohnen, hätte ich dir wahrscheinlich eher geglaubt.«
»Dort habe ich sie nicht kennengelernt.«
»Nein, das stimmt. Du hast sie in der Vibe Bar in der Brick Lane kennengelernt.«
»Jetzt wechseln Sie das Thema«, sagte Alyshia, erschrocken, wie tief er in ihr Leben eingedrungen war. »Wenn wir fertig sind mit ›Warum wohnst du in Dalston?‹, sollten Sie mich die Schlafmaske abnehmen lassen.«
»Sollte ich, werde ich aber nicht, weil wir noch nicht fertig sind.«
»Ihre Regeln sind also willkürlich.«
»Die Regeln gelten nur für dich, und ich wende sie an. Ich entscheide, wann du mir eine hinreichend starke Antwort gegeben hast. In diesem Fall hast du mir noch nicht den wahren Grund dafür genannt, warum du in Dalston wohnen willst, während deine Mutter in einer schicken neuen Wohnanlage im Aubrey Walk lebt. So eine Erleichterung, endlich den lästigen Typen vom Edwardes Square loszuwerden. Herrgott, er war wirklich total verschossen in deine Mum. Aber sie wollte nichts davon wissen. Ich bezweifle, dass sie seit Chico jemanden hatte, oder?«
»Sie sind widerlich …«, setzte Alyshia an, aber es war etwas anderes, was sie wirklich schockierte. »Woher kennen Sie diesen Namen? Den Kosenamen meiner Mutter für meinen Vater?«
»Es ist überaus bedauerlich, dass deine Mum es nicht mit Franks hyperaktivem Schwanz ausgehalten hat, sonst wären sie noch zusammen. Ich meine, Sharmila ist unglaublich, versteh mich nicht falsch, wenn man die Wahl hat, aber sie ist ein bisschen aus der Kategorie ›Jeder
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