Stirb für mich: Thriller
keine Forderung, stattdessen hält der Kidnapper mit seinem Opfer eine ausgedehnte psychoanalytische Sitzung ab. Er muss umfangreiche Recherchen angestellt haben. Und der einzige Grund, der mir dafür einfällt, ist, dass er eine Art Abhängigkeitsverhältnis schaffen will.«
»Zu wem?«
»Zu ihm, dem Entführer«, sagte Boxer. »Er spricht mit ihr über die intimsten Begebenheiten ihres Lebens, über einen Menschen, der möglicherweise ihretwegen Selbstmord begangen hat. Er zwingt sie, die Erfahrung noch einmal zu durchleben und auf ihr aktuelles Verhalten zu beziehen. Er schafft eine besondere Bindung zu ihr und beweist euch damit gleichzeitig, wie wenig ihr über eure Tochter wisst. Er unterminiert also an zwei Fronten.«
»Ja«, sagte Isabel plötzlich und riss sich aus ihrer Benommenheit. »Was wusstest du von alldem, Chico? Die Saïd Business School muss doch Kontakt mit dir aufgenommen haben. Du warst … was immer du für sie gemacht hast, du musst ihnen doch wichtig gewesen sein, und sie … tut mir leid, ich kann nicht klar denken. Erzähl mir einfach, was du weißt, Chico … was du mir nicht erzählt hast.«
»Ich wusste alles«, sagte D’Cruz. »Der Rektor hat mich über den Selbstmord informiert. Ich habe mit ihr und diesem Dreckskerl Julian gesprochen – ihm gesagt, er soll sich nie wieder in Alyshias Nähe trauen, keinen Kontakt zu ihr suchen, gar nichts. Ich habe Alyshia aus dem Kurs direkt mit nach Bombay genommen. Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mit dir darüber reden soll, weil ich wusste, dass es dich aufregen würde.«
Die Spannung im Raum war förmlich hörbar, eine summende Intensität wie ein stressbedingter Tinnitus. Boxers Handy vibrierte auf dem Tisch. Alle waren dankbar für die Ablenkung. Er nahm Mercys Anruf im Wohnzimmer entgegen. Sie berichtete von den fünf Morden, die in den letzten vierundzwanzig Stunden entdeckt worden waren, und erklärte ihm, wie er sie D’Cruz präsentieren sollte, um zu beweisen, dass die Polizei bis zur Entdeckung von Jim Paxton nicht beteiligt gewesen war.
»Wie läuft es sonst?«, fragte Mercy.
»Sonst?«
»Zwing mich nicht, es zu sagen, Charlie.«
»Der Exmann ist hier. Ich entdecke gerade die Grenzen ihrer gemeinsamen Belastbarkeit.«
»Brauchst du Hilfe?«
»Du bist mein Co-Consultant.«
»Ja«, sagte sie, unglücklich darüber, dass er nicht offen zu ihr war.
Sie legten auf. Boxer kehrte in die grausam stille Küche zurück und bat D’Cruz, mit ihm ins Wohnzimmer zu kommen.
»Ich weiß, ihr wolltet die Polizei aus der Sache raushalten, aber es hat einige Entwicklungen gegeben, die das unmöglich machen«, sagte Boxer.
»Ich habe eine Garantie der Innenministerin«, sagte D’Cruz und reckte das Kinn.
»Nicht einmal die Innenministerin kann verhindern, dass die Polizei bei mehrfachem Mord ermittelt«, erwiderte Boxer. »Die Kollegen von Pavis haben herausgefunden, dass Alyshia am Abend ihrer Entführung den Abschied einer Kollegin aus der Arbeitsagentur gefeiert hat, in der sie jobbt.«
»Was für eine Arbeitsagentur?«
»Auf der Suche nach einem Taxi hat sie die Gruppe in Begleitung eines Mannes namens Jim Paxton verlassen, der später erhängt in seinem Kleiderschrank gefunden wurde. Das haben meine Kollegen der Polizei gemeldet.«
»Warum?«
»Weil man keine Leichen rumhängen lassen kann«, sagte Boxer. »Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen auf Aufnahmen einer Sicherheitskamera gestoßen, wo zu sehen ist, wie Jim Paxton Alyshia in ein Taxi setzt. Bei weiteren Nachforschungen wurde der Taxifahrer in einem Haus in East London tot aufgefunden, zusammen mit einem weiteren, noch unbekannten Mann. Das sind drei Morde, plus der Schuss, der gestern Abend auf dich abgegeben wurde. Es gibt zwei laufende Ermittlungen im Dezernat für Mord und schwere Gewaltverbrechen.«
»Ich habe ausdrücklich darum gebeten, die Polizei aus der Sache rauszuhalten. Die Polizei und die Presse. Dadurch wird das Leben meiner Tochter …«
»Die Polizei hat sich aus der Entführung rausgehalten, aber hier haben wir es mit Mord zu tun«, sagte Boxer, »und ich rede unter vier Augen mit dir, damit du anfangen kannst, mir etwas zu erzählen, was uns hilft, Alyshia zurückzuholen. Ich weiß, dass das nicht deinem Wesen entspricht. Aber es ist für jedermann offensichtlich, dass hinter dieser Entführung ein Maß an Organisation steht, das den Racheakt eines Einzeltäters ausschließt. Die Tatsache, dass es keine Forderungen gibt, die Entführer offenbar
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