Stirb für mich: Thriller
hat. Wir haben dein frühes Erwachsenenleben betrachtet, den Abschied von der relativen Unschuld der Uni und die ungleich komplexere Zeit an der Saïd Business School. Wir haben gesehen, wie die Schuldgefühle über das, was dort passiert ist, in der eher verwirrten Phase, die du zurzeit durchlebst, wieder hervorgebrochen sind. Nun werden wir uns die Beziehung zu deinem Vater genauer ansehen, das, was in Mumbai geschehen ist, und warum du die Stadt mit dem Vorsatz verlassen hast, nie dorthin zurückzukehren. Hast du das verstanden, Alyshia?«
Sie nickte.
»Sag es laut.«
»Ja, ich bin bereit, darüber zu sprechen.«
»Weißt du, wie dein Vater es geschafft hat, die schwierige Situation an der Saïd Business School für dich zu klären?«
»Damals wusste ich es nicht. Ich habe es später erfahren«, sagte Alyshia. »Ich konnte mit dem, was geschehen ist, nur leben, indem ich es verdrängt habe. Mein Vater hat mir gesagt, ich soll nicht mit meiner Mutter über Abiola Adeshina sprechen. Er hat sich eine andere Geschichte ausgedacht, die ich ihr erzählen sollte: dass ich wegen der Trennung von Julian so schnell wie möglich nach Mumbai aufbrechen musste.«
»Und das hat deine Mutter dir abgekauft?«
»Es war nicht schwer, sie zu überzeugen.«
»Hast du damals angefangen, sie zu verachten?«
»Wahrscheinlich schon«, sagte Alyshia. »Denn in dem Moment habe ich aufgehört, der Mensch zu sein, der ich gewesen war, und angefangen, eine andere zu werden.«
»Und wer war diese ›andere‹?«
»Das ist eine schwierige Frage«, sagte sie. »Ich weiß es nicht genau. Eine Menge ist wahrscheinlich unbewusst passiert. Zunächst einmal brauchte ich eine Plattform totaler Selbstsicherheit. Man kann nicht in der Wirtschaft arbeiten, wenn man sich verwundbar fühlt. Das bedeutete, ich musste weniger befriedigende Aspekte meines Lebens kappen. Ich dachte, ich wäre erfolgreich gewesen. Jetzt erkenne ich, dass ich sie nur unterdrückt und verdrängt habe, mit dem Erfolg, dass sie an anderer Stelle an die Oberfläche drängen.«
»Wie hast du versucht, diese unbefriedigenden Aspekte zu kontrollieren?«, fragte die Stimme.
»Ich habe erkannt, dass ich ein Gleichgewicht finden muss. Hätte ich zugelassen, dass mein Gefühlsleben außer Kontrolle gerät, hätte ich mich wieder entblößt und verletzlich gefühlt und meine Leistung nicht bringen können. Also habe ich mich auf keine Beziehung eingelassen. Gar nicht so leicht, wenn man aussieht wie ich und einen reichen Vater hat. Diese Mischung scheint im modernen Indien besonders berauschend zu wirken.«
»Das heißt, dir ist eine Menge Interesse entgegengeschlagen«, sagte die Stimme. »Aber du bist doch bestimmt Expertin darin, Männer abblitzen zu lassen.«
»Das bin ich und war ich, bis ich Deepak Mistry kennenlernte.«
»Stimmt. Wir wissen von ihm«, sagte die Stimme. »Erzähl mir von Deepak Mistry.«
»Er stammt aus Bihar, der ärmsten Provinz Indiens. Er hat praktisch keine Familie. Niemand wusste, wie er es geschafft hatte, mit diesem Hintergrund eine erfolgreiche Software-Firma in Bangalore zu führen.«
»Der mysteriöse Mr Mistry«, sagte die Stimme. »Fandest du das verlockend?«
»Es war schon faszinierend, die Art Klatsch, bei der die Leute zu Übertreibungen neigen, aber nicht wirklich verlockend. In dieser Hinsicht war ich nicht sehr empfänglich.«
»Du hast dir also nicht mal die Mühe gemacht, es herauszufinden?«
»Ich habe meinen Vater gefragt, als wir einmal allein zu Abend gegessen haben«, erwiderte Alyshia. »Er sagte, es würde ihn nicht interessieren, wie Deepak dorthin gekommen sei, sondern nur, dass er es geschafft hatte.«
»Und wie hat er es geschafft?«
»Er hat sich mit Nachtschichten in einem Call-Center das Studium selbst finanziert. Als er kündigte und sich selbstständig machte, schrieb er schon Software-Programme für das Call-Center.«
»Es gibt immer noch eine Menge Lücken«, sagte die Stimme. »Wo hat er Englisch gelernt? In der Dorfschule in Bihar?«
»Das war meinem Vater herzlich egal. Er sah nur einen fähigen jungen Mann, der ihn an sich selbst erinnerte«, sagte Alyshia. »Und ich nehme an, deswegen hat er ihn unter seine Fittiche genommen.«
»Hattest du Deepak bereits kennengelernt, als du deinem Vater diese Fragen gestellt hast?«
»Wir waren uns ein paar Jahre zuvor bei einem Abendessen in London schon einmal begegnet. Aber in Mumbai gab es keinen Grund, ihn zu treffen. Er versuchte, das Produktionsniveau
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