Stirb leise, mein Engel
er sie da zum Selbstmord verführen sollen? Das kann ein geschulter Psychologe mit seinen Tricks viel besser.« Auf die Nachfrage, ob sie ihrem Mann wirklich ein so gewissenloses Vorgehen zutraue, gab Gesine Engelhart unumwunden zur Antwort: »Mein Exmann mag als Psychologe ein paar Erfolge erzielt haben, aber in seinem Herzen ist er eiskalt. Ich traue ihm alles zu. Ich habe erlebt, wie er sein kann. Mir braucht keiner was zu erzählen, ich weiß über ihn Bescheid.«
Joy blickte auf. Wie würde Sascha das wohl aufnehmen? Bis jetzt hatte er Androsch stets gegen alle Anschuldigungen verteidigt. Doch was, wenn dieser Mirko wirklich unschuldig war und der wahre Mörder ihm die Morde in die Schuhe geschoben hatte? Wer hätte sowohl einen Vorteil davon wie auch die Möglichkeit, das zu arrangieren? Ein Therapeut, der – vielleicht – ein schlimmes Geheimnis mit den Mädchen teilte und – vermutlich – Zugang zu Mirkos Wohnung hatte, wäre sicher kein schlechter Kandidat. Aber würde jemand wirklich seinen eigenen Sohn unschuldig ans Messer liefern? Wie groß müssten der Hass und die Abgebrühtheit für so eine fiese Tat sein? Und so jemand sollte gleichzeitig Psychotherapeut sein? Nee, dachte sie, das passt nicht.
Das Läuten der Türglocke schrillte durch die Wohnung. Sascha konnte es nicht sein, der hatte den ganzen Nachmittag Unterricht. Wahrscheinlich war es wieder für ihre Mutter. Niemand zu Hause, dachte sie und begann damit, eine Banane in Scheiben zu schneiden. Doch der Störer bewies Hartnäckigkeit und läutete gleich noch einmal. »Was soll denn das!« Sie warf das Messer hin, ging in den Flur und sagte genervt in die Gegensprechanlage: »Wer ist denn da?«
»Mareike«, kam es zurück.
Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Wer?«
»Mareike.«
»Du hast dich in der Klingel vertan. Hier ist bei Lennert. Schmidt ist der Knopf daneben. Sascha ist allerdings nicht da, so viel kann ich dir sagen.«
»Nee, Joy, ich will zu dir. Dauert nicht lange. Nur kurz reden.«
Es konnte nur um Sascha gehen. Die üblichen Revierstreitigkeiten und Eifersüchteleien einer Zicke. Sie hatte schon zu viele solche Kleinkriege ausgefochten, um das nicht auf Anhieb zu erkennen.
»Jetzt passt es mir aber nicht.«
»Dauert wirklich nicht lange. In einer Viertelstunde bin ich wieder weg. Versprochen.«
»Aber wenn ich doch sage –«
»Warum bist du so gemein? Du hast doch eh gewonnen!«
»Gewonnen? Wie meinst du das?«
»Tu doch nicht so, und lass mich rein, damit wir reden können.«
Ein Stoßseufzer entfuhr Joy. Was sollte sie machen? In der Wohnung wollte sie Mareike auf keinen Fall haben. Besser, sie traf sie an einem Ort, wo sie jederzeit aufstehen und gehen konnte.
»Hier bei mir ist es ungünstig, meine Mutter macht gerade großen Hausputz«, log sie. »Lass uns besser in dem kleinen Café am Ende der Straße treffen.«
Es blieb eine Weile still, dann sagte Mareike: »Na gut. In zehn Minuten.«
Joy stand noch eine Weile da und überlegte, was Mareike mit »Du hast eh gewonnen« gemeint hatte.
NEBEN DEM EINGANG des Cafés parkte ein Motorroller, den Joy sofort wiedererkannte. Es war der von Mareike. Bringen wir’s hinter uns, dachte sie und betrat das gut besuchte Lokal.
Mareike saß an einem der hinteren Tische, mit einem Glas Cola vor sich. Joy musste genau hinsehen. Mit der Baseballmütze, dem schlabbrigen Sweatshirt und der Sonnenbrille hätte man sie glatt füreinen Jungen halten können. Was für ein Kontrast zu dem hippen Outfit vom letzten Mal. Als sie Joy bemerkte, hob sie nur kurz die Hand.
»Ich hab dich neulich vor unserem Haus gesehen«, begann Mareike, nachdem Joy sich gesetzt hatte. Die Sonnenbrille ließ sie auf. »Das warst du doch, oder?«
»Keine Ahnung, was du meinst«, log sie und bereute es sofort, denn sie spürte, dass Mareike sich absolut sicher war.
»Egal. Jedenfalls … Was Sascha angeht, solltest du wissen …«
Ein Kellner kam an den Tisch und unterbrach das Gespräch. Joy bestellte einen Kaffee und ein Glas Wasser. Als der Kellner weg war, fuhr Mareike fort: »Wegen Sascha, also … ich akzeptiere seine Entscheidung natürlich und hab nicht vor, ihn dir streitig zu machen.«
»Was denn für eine Entscheidung?«
Mareike sah sie erstaunt an. »Hat er es dir nicht gesagt?«
»Was?«
»Na, dass er mir … Dass er mich nicht … will …«
Sie konnte Mareike nur stumm ansehen. Vieles hatte sie erwartet, aber nicht das. Sie wusste nicht, was sie denken, nicht
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