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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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überwuchert. Joy blieb dicht hinter Mareike. Nach etwa zehn Metern öffnete sich das Gestrüpp vor ihnen und gab den Blick frei auf eine zweistöckige Bauruine. Wäre sie jemals fertig geworden, so wäre sie bestimmt eine beeindruckende Villa mit vielen Zimmern gewesen. Etwas abseits davon stand auf vier platten Reifen ein ziemlich morsch wirkender Bauwagen. Mareike blieb stehen und drehte sich zu Joy um. Anscheinend waren sie am Ziel.
    »Was ist das?«
    »Das ist der Ort, an dem alles anfing. Und an dem es enden wird.«
    Ziemlich pathetisch, dachte Joy und machte nur: »Aha.«
    »Komm, ich führ dich herum und zeig dir alles.«
    »Ich hab aber nicht endlos Zeit. Eigentlich …«
    »Es dauert nicht lange.«
    »Das hast du bei der Fahrt auch gesagt. Hat aber nicht gestimmt. Also, wo sind wir hier?«
    »Du warst doch so neugierig, wo ich wohne. Das hier ist mein Zuhause. Zumindest sollte es das werden. Bis mein Alter den Bau aufgegeben hat. Von einem Tag auf den anderen.«
    »Und warum?«
    »Das erklär ich dir gleich. Aber jetzt komm!«
    Zögernd folgte Joy ihr ins Innere der Ruine. Wieso hatte sie sich bloß auf diese Tour eingelassen? Am liebsten wäre sie einfach gegangen. Doch es gab hier weit und breit keinen Bus, keine Tram und schon gar keine U-oder S-Bahn.
    Mareike steuerte auf die Kellertreppe zu, sie hatte schon zwei Stufen genommen und drehte sich nun um, weil Joy oben stehen geblieben war. »Was ist?«
    Joy gefiel die Dunkelheit, die sich zu ihren Füßen auftat, überhaupt nicht. »Ich bleib lieber hier oben. Das ist mir echt zu gruselig da unten.«
    Mareike rollte mit den Augen. »Jetzt stell dich nicht so an. Glaubst du, hier spukt’s?«
    »Das nicht, aber …«
    »Ich kann dich gerne an die Hand nehmen, wenn du dich dann wohler fühlst.« Mareike lachte und fasste tatsächlich nach Joys Hand, doch die zog sie weg. Sie kam sich mit ihrer Angst ziemlich kindisch vor. Schließlich hatte Mareike recht. Was sollte da unten schon sein?
    Stufe für Stufe folgte sie ihr hinab ins Dunkel. Am Fuß der Treppe hob Mareike etwas auf: eine Taschenlampe, wie Joy erst erkannte, als Mareike sie einschaltete.
    »Du bist wohl öfter hier.«
    »Ab und zu.«
    Sie gingen einen breiten Gang hinab, an dem mehrere Räume lagen. Mareike steuerte, wie es schien, einen ganz bestimmten an.
    »Und was genau gibt es hier unten so Interessantes zu sehen?«
    »Es ist hier drin.«
    Mareike leuchtete in den Raum, ließ Joy aber den Vortritt. Unter der Decke verliefen Leitungen, in einer Ecke war ein Heizkörper montiert, aber wohl nie benutzt worden. Weitere Rohre lehnten an der Wand gegenüber, so als warteten sie noch immer darauf, endlich verbaut zu werden. Sonst gab es hier nichts. Hä?, dachte Joy. Was war so besonders an einem Haufen vor sich hin rostender Rohre? Ah, verstehe, kam es ihr dann in den Sinn, ich werde hier gerade megamäßig verarscht. Sehr witzig.
    »Okay, ich hab’s gesehen«, sagte sie verärgert und wandte sich um, um wieder zu gehen.
    Mareike trat ihr in den Weg, blendete sie mit dem grellen Licht der Taschenlampe und sagte: »Das hier hast du noch nicht gesehen.«
    Joy bemerkte in ihrer anderen Hand ein kleines Gerät, konnte aber nicht erkennen, was es war. Im nächsten Augenblick spürte sie im ganzen Körper einen heftigen, lähmenden Schlag. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

37
    UNGEDULDIG FOLGTEN SASCHAS Augen dem Lauf des Sekundenzeigers auf seiner Armbanduhr. Drei – zwei – eins … Schluss! Lärmend schellte die Schulglocke. Die Nachmittagsschläfrigkeit, die eben noch über der Klasse gelegen hatte, war wie weggeblasen, alle packten Blöcke, Stifte und Bücher in ihre Taschen, und der Ruf des Lehrers: »Herrschaften, den Unterricht beende noch immer ich!«, verhallte als bloße Behauptung. Am schnellsten von allen war Sascha zur Tür hinaus. Nur wenige Minuten nach dem Läuten der Glocke schwang er sich schon auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Vorher aber hatte er noch sein Handy eingeschaltet, in der Hoffnung, eine SMS von Joy vorzufinden. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Stattdessen wurde ein entgangener Anruf angezeigt. Auch nicht von Joy, sondern von seiner Mutter. Was wollte die schon wieder?
    Als er einige Zeit später an die Kreuzung kam, an der er sich jeden Morgen von Joy trennte, schlug sein Herz ein wenig schneller. Seit ihm bewusst geworden war, dass er am Abend ein Date mit Joy hatte, schwang sein Gefühlspendel wild zwischen Hoffnung und Versagensangst hin und her. Was, wenn er

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