Stirb leise, mein Engel
nachdenklich, heute?«
»Ich bin doch morgens nie besonders gesprächig.«
»Stimmt.«
Sie gingen in den Hof zu ihren Rädern. Während sie die Schlösser aufsperrten, fragte Joy: »Eines musst du mir jetzt aber schon mal verraten: Läuft zwischen dir und dieser Mareike was oder nicht?«
Er hatte das Nein schon auf der Zunge, aber dann ließ er es doch nicht über die Lippen, weil er das Gefühl hatte, dass ihre Unsicherheit darüber einer der wenigen Trümpfe war, die er hatte. Es machte ihn interessant.
»Mal sehen«, sagte er vieldeutig und steckte das Fahrradschloss in eine Seitentasche seines Rucksacks. Damit sie nicht nachfragen konnte, schob er das Rad gleich Richtung Straße.
»Ziemlich mild für Dezember«, sagte Joy, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinanderher geradelt waren. »Wird wohl wieder nichts mit weißen Weihnachten.«
Er sah sie kurz von der Seite an. Was redete sie da? Über das Wetter hatten sie sich noch nie unterhalten.
»Wohl eher nicht.«
Die Kreuzung, an der ihre Wege sich trennen würden, kam in Sicht.
»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass wir noch nie zusammen weg waren?«, fragte sie plötzlich. »Nicht mal im Kino. Oder tanzen.« Mit einem Zwinkern ergänzte sie: »Oder irgendwo einbrechen.«
Er schmunzelte, sagte aber nichts.
»Wir könnten das ja heute Abend nachholen. Was meinst du?«
»Wo willst du denn einbrechen?«
»Na ja, vielleicht fangen wir mal mit einer schummrigen Bar an, oder so.«
Schummrige Bar? Wie kam sie denn jetzt darauf?
»Von mir aus. Können wir gerne machen.«
»Toll.«
Schweigend rollten sie an die Kreuzung, hoben zum Abschied die Hand. Als er allein war, fragte er sich, ob er dabei wenigstens gelächelt hatte; aber ganz bestimmt nicht so strahlend wie sie. So als habe sie eben fünfzehn Punkte in Mathe gekriegt. Es dauerte noch mal ein paar Hundert Meter, bis er begriff, was da eben passiert war. Er hatte sich mit Joy verabredet. Er hatte ein richtiges Date mit ihr. Oder besser: sie mit ihm.
VIELLEICHT WAR ES ein Riesenfehler, dachte Joy. Nicht zum ersten Mal an diesem viel zu langen Schultag, obwohl der kurz nach Mittag schon zu Ende gegangen und sie seit einer Viertelstunde wieder zu Hause war. Eigentlich hatte sie an kaum etwas anderes gedacht, seit sie sich am Morgen mehr oder weniger geschickt mit Sascha verabredet hatte. Seither fragte eine Stimme in ihr, die möglicherweise die Stimme der Vernunft, vielleicht aber auch die Stimme der Angst war: Wieso nicht einfach alles so lassen, wie es ist? War sie dabei, etwas Wunderbares zu zerstören, ohne dafür etwas Besseres zu bekommen? Sie würde heute Abend nichts erzwingen, das nahm sie sich fest vor. Sie würde ihre Ungeduld, mit der sie sonst in solche Dinge hineinstürmte, zügeln und das Ganze sich entwickeln lassen. Und wenn sich nichts entwickelte, würde sie auch damit zufrieden sein.
Sie nahm eine Banane, eine Orange, zwei Äpfel und Trauben für einen Obstsalat aus der Obstschale. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, legte sie die Zeitung, die ihre Mutter am Morgen auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, auf die Anrichte. Die Schlagzeile hatte es in sich.
ZYANKALI - MORDE – ER IST UNSCHULDIG !
Jetzt spricht die Mutter von Mirko E.
Sie wollte den Artikel gerade aufschlagen, als das Telefon klingelte. Das Festnetz, nicht ihr Handy.
Anrufer unbekannt
, las sie im Display. Sie nahm ab.
»Ja?«
»Kann ich Frau Lennert sprechen?« Die Stimme eines Mädchens.
»Welche denn? Und wer ist da überhaupt?«
»Kirsten Lennert meine ich. Ich bin Felicitas. Eine Schülerin.«
»Ach so. Meine Mutter ist nicht da.«
»Und wann kommt sie?«
»Erst um halb sechs.«
»Bist du ihre Tochter?«
»Ja. Soll ich ihr sagen, dass du angerufen hast?«
»Nein. Ich melde mich wieder. Tschüss.«
Joy legte auf und stellte das Telefon zurück in die Station. Es kam öfter vor, dass Schülerinnen ihre Mutter anriefen, sie gab ihre Nummer bereitwillig heraus. Deshalb dachte Joy nicht länger darüber nach und wandte sich wieder ihrem Fruchtsalat und dem Zeitungsartikel zu.
Gesine E. zeigte sich darin felsenfest von der Unschuld ihres Sohnes Mirko überzeugt und schob alle Schuld ihrem Exmann zu. »Er hatte schon immer ein Faible für junge Mädchen« , wurde sie zitiert, »seinen eigenen Sohn aber hat er abgelehnt. Mirko war ein viel zu schlichtes Gemüt, um sich so was wie diese Morde auszudenken. Und er war nicht gerade der Typ, auf den die Mädchen fliegen. Wie hätte
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