Stirb leise, mein Engel
alles nur missverstanden hatte? Nein, etwas war anders. Bei ihr. Und das veränderte alles für ihn.
Vor seinem Haus angekommen, schloss er das Tor auf und schob sein Rad in den Hinterhof. Joys Fahrrad stand im Ständer an seinem üblichen Platz. Anscheinend war sie zu Hause. Nachdem er sein Rad abgeschlossen hatte, nahm er sein Handy und wählte ihre Nummer im Adressbuch aus. Er war so aufgeregt, dass er die richtige Taste mehrmals verfehlte. Was sagte man, wenn man das, was man auf dem Herzen hatte, lieber nicht sagen wollte?
Ich liebe dich. Ich will dich küssen. Und mehr.
Eine Gänsehaut nach der anderen rollte bei diesen Gedanken über seinen ganzen Körper.
Joy, ich liebe dich.
Was für Worte. Worte, schwerer als die ganze Welt. Schon wieder eine Gänsehaut.
Es läutete. Gleich würde er ihre Stimme hören. Sein Herz explodierte fast, in seinem Bauch ein heißes Pulsieren. Natürlich würde er nicht sagen: Ich liebe dich. Er würde sagen: Hi, wie geht’s? Er würde nicht sagen: Ich will dich küssen. Er würde sagen: Wo bist du? Und dann würde er sagen: Wann soll ich dich nachher abholen? Und dann …
Jemand hob ab. Etwas wie ein Geräusch, sehr laut. Konnte auch eine Stimme sein. Eine Stimme, die etwas schrie. Danach sofort ein Knacken. Die Verbindung war unterbrochen.
Nur ein Empfangsproblem? Oder hatte sie ihn weggedrückt?
Er überlegte eine kurze Weile, dann wählte er noch einmal.
Mailbox.
Scheiße.
Wieso drückte sie ihn weg? War alles, was er zwischen ihnen gesehen hatte, nur Einbildung gewesen? Wunschdenken? Jemanden, den man liebte, den drückte man doch nicht einfach aus der Leitung.
ALS ER IN den Flur trat, stand seine Mutter in der Küchentür und sah ihn auf eine Weise an, die keinen Zweifel ließ, dass es gleich unangenehm für ihn werden würde. Schon dass sie um diese Zeit zu Hause war, ließ nichts Gutes ahnen. Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, was ihr jetzt schon wieder nicht passte.
»Da bist du ja endlich«, sagte sie nur.
»Ich hatte bis eben Unterricht. Das solltest du eigentlich wissen.«
»Ja, ja. Komm in die Küche. Wir müssen reden.«
Er warf seinen Rucksack ab, zog die Jacke aus und hängte sie betont langsam an einen Kleiderbügel. Dann schlurfte er hinter ihr her. Sie wies mit der Hand auf einen Stuhl. Er ließ sich darauffallen, während sie stehen blieb.
»Ich muss jetzt wissen, wer dir den Tipp mit der Wohnung von Mirko Engelhart gegeben hat. Und zwar sofort.«
»Ich hab dir schon gesagt, dass ich den Namen nicht verraten kann. Ich hab’s versprochen.«
Ihre Augen blitzten böse, mit schneidender Stimme sagte sie: »Kannst du dir vorstellen, wie scheißegal mir das gerade ist? Hier geht es um eine Mordermittlung, da zählen solche albernen Pubertätsschwüre nichts!« Ehe er etwas sagen konnte, streckte sie ihm die Hand entgegen, hielt kurz die Luft an und sagte: »Okay, entschuldige, das war nicht der richtige Ton. Lass mich noch mal anfangen.«
Wow, dachte er, sie muss ja wirklich unter Druck stehen, wenn sie erst so loslegt und sich dann entschuldigt. Das macht sie sonst nie. Was läuft da?
»Lass mich es dir erklären«, setzte sie ein paar Sekunden später mit ruhigerer Stimme an, während sie sich mit beiden Händen an der Stuhllehne festhielt. »Mirko Engelhart war ein ziemlich durchgeknallter Typ, aber er hat aller Wahrscheinlichkeit nach niemanden umgebracht oder zum Selbstmord gedrängt.«
Er horchte auf. »Nicht?«
»Nein.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Weil das Ganze viel zu genau durchgeplant war. Das passt überhaupt nicht zu jemandem, der nichts in seinem Leben geregelt kriegt. Wir hatten übrigens von Anfang an große Zweifel an ihm als Täter.«
»Aber es gibt doch die Ordner und den Film … und ein Geständnis.«
»Eine nicht abgeschickte SMS auf seinem Handy ist die schwächste Form eines Geständnisses, die man sich vorstellen kann. So was kann jeder eintippen. Und selbst wenn die SMS von ihm sein sollte … Was glaubst du, wie viele falsche Geständnisse wir kriegen. Nein, Mirko Engelhart ist kein Täter, er ist ein Opfer. Und was die Sachen angeht, die wir in der Wohnung gefunden haben: Die hat ihm jemand untergeschoben, da sind wir absolut sicher. Deshalb
musst
du mir sagen, was du weißt. Also: Mit wem warst du in der Wohnung, und wer hat euch den Tipp gegeben?«
»Es war kein Tipp in dem Sinn.«
»Was dann?«
Er sah in die fordernden Augen seiner Mutter. Sie würde nicht lockerlassen, bis er ihr alles
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