Stirb leise, mein Engel
zaghaft ins Dunkel. Doch es kam nie eine Antwort.
All diese Geräusche erschienen ihr unendlich weit weg und zugleich bedrohlich nah. Die Dunkelheit hatte den Raum aufgelöst, es gab kein Unten und kein Oben mehr, kein Rechts und kein Links. Wie lange war sie schon hier? Eine Ewigkeit, schien es ihr. Vielleicht auch nur Stunden.
Noch immer hielt sie es für möglich, dass das alles nur ein bizarrer Albtraum war. Dass sie nicht, an Händen und Füßen gefesselt, in einem Kellerloch hockte und zusätzlich mit einer Kette um den Bauch an einem Heizkörper hing. Dass sie nicht von einem Elektroschocker kurzzeitig gelähmt worden war. Dass diese Mareike kein durchgeknallter Freak war, der sie gefangen hielt. Der Schmerz an Hand-und Fußgelenken sagte ihr allerdings etwas anderes. Das alles war passiert. Das alles war echt.
Sie fror. Der muffig riechende Schlafsack, den Mareike ihr übergeworfen hatte, war von ihren Schultern gerutscht. »Ich will doch nicht, dass du erfrierst«, hatte sie grinsend gesagt. Wie fürsorglich. Auf die Frage, was das Ganze solle, hatte sie zunächst nicht geantwortet und dann erklärt: »Keine Angst, wenn du dich ruhig verhältst, geschieht dir nichts. In ein, zwei Tagen bist du wieder zu Hause.«
Natürlich hatte das alles mit Sascha zu tun. Mareike hatte ihn keineswegs aufgegeben. Aber was hatte sie vor? »Ich und Sascha werden weggehen.« Das hatte sie gesagt, mit diesem Triumph in den Augen, so als sei es schon eine Tatsache. Doch was sollte es bedeuten? Wie stellte sie sich das vor? Wollte sie Sascha auch entführen?
Ich muss aufpassen, dachte sie plötzlich. Bis jetzt hat Mareike kein einziges wahres Wort von sich gegeben. Und zuzutrauen ist ihr so ziemlich alles. Auch das Schlimmste. Wenn sie also sagt, dass sie mich leben lassen will, bedeutet das nicht, dass es so sein wird. Das Einzige, was dafür spricht, ist die Tatsache, dass sie mich nicht gleich umgebracht hat.
Sie wunderte sich selbst, wie kühl und sachlich sie bei diesen Gedanken blieb. Irgendwas in ihr glaubte fest daran, dass es nicht zum Äußersten kommen würde. Vielleicht auch bloß, weil sie es sich nicht vorstellen wollte.
Da! Wieder dieses gehauchte Stöhnen.
»Hallo …?«
Keine Antwort.
[zurück]
ES IST NOCH dunkel. Und ziemlich kühl. Die Zigarettenkippe, die ich eben weggeschnippt habe: ein orangefarbenes Glimmen im Schwarz. Ich folge dem Lichtteppich, den mir die Taschenlampe ausrollt. Eigentlich kenne ich den Weg in-und auswendig, mit verbundenen Augen würde ich ihn finden. Der Bau vor mir ist noch ein wenig schwärzer als der sternenlose Himmel. Im Keller muss jetzt totale Finsternis herrschen. Sie muss das Gefühl haben, in ihrem eigenen Grab zu sitzen. Und das tut sie ja auch.
Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit. Mehr Zeit, alles richtig zu planen. Alles zu bedenken. War es ein Fehler, den Termin bei den Bullen platzen zu lassen? Nein, ich konnte nicht anders. Wenn sie mich festgehalten hätten. Das Risiko war zu groß. Aber warum habe ich nicht einfach angerufen und abgesagt? War das ein Fehler? Hab ich mich so erst verdächtig gemacht?
Ein Fehler war es, mich auf Sascha einzulassen. Okay, nachdem Natalie mir erzählt hat, dass er uns gesehen hat und dass ihr mein Name rausgerutscht ist, musste ich wissen, ob er ein Risiko ist. Aber das war er nicht. Zu keinem Zeitpunkt. Er hätte mich in tausend Jahren nicht gefunden. Wieso musste ich ihn trotzdem wiedersehen? Er hat mir ja von Anfang an gefallen. Und dass ich ihn zum ersten Mal vor Joachims Praxis gesehen hab, das hat mir was bedeutet. Aber richtig gewollt hab ich ihn erst, als Natalie mir erzählt hat, dass er so was wie ihr Beschützer war. Ich hätte auch gerne einen Beschützer gehabt. Hätte mir ja denken können, dass das wieder nicht klappt. Nach der Enttäuschung mit Joachim. Ja, das war definitiv ein Fehler. Mein größter. Mein einziger selbst verschuldeter.
Und ein Fehler zieht andere nach sich. Vor allem, wenn es schnell gehen muss.
Ich zünde mir vielleicht doch noch eine Zigarette an. So viel Zeit hab ich. Soll die Negerschlampe noch ein paar Minuten warten, das bringt mich nicht um. Und sie auch nicht. Ha, ha.
Ich würde Sascha gerne alles erzählen. Über mich und Gottvater und die Alte Schlampe und wie alles kam. Und auch über Tristan. Auch das würde ich ihm gerne erzählen. Vor allem hier, an diesem Ort, an dem eigentlich alles von Tristan spricht. Vielleicht tue ich es, wenn uns genug Zeit dafür bleibt. Von
Weitere Kostenlose Bücher