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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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los und setzt sich ins Gras. Sie nährt das Feuer nur so viel, dass es nicht ausgeht. Nicht mehr. Der Junge nimmt sein Fahrrad, das am Baumstamm lehnt, steigt auf und fährt davon.
    Jetzt ist sie allein. Ich warte noch ein bisschen, genieße den Moment. Gleich wirst du die wichtigste Begegnung deines Lebens machen. Gleich wird dir dein Todesengel gegenübertreten. Nur noch wenige Sekunden trennen dich von ihm.
    Ich ziehe meine Sneakers aus, erhebe mich von der Bank und trete in das Grün der Rasenfläche. Das Gras kitzelt meine Fußsohlen. Es fühlt sich gut an. Lebendig. Ich stelle mich in den Schatten der Linde, vor das Mädchen. Sie löst ihren Blick von der aufgeschlagenen Seite ihres Mathematikbuchs und schaut zu mir hoch.
    »Ist was?«, fragt sie.
    »Ich hab dich beobachtet«, sage ich und sehe ihr die ganze Zeit auf den kleinen, viel zu roten Mund. »Sorry, wenn ich so direkt bin, aber du gefällst mir. Darf ich mich zu dir setzen?«
    Scheue Mädchen mögen freche Jungs.
    Sie sieht mich an, checkt mich binnen Sekunden ab.
    »Klar. Das ist ein freies Land, und jeder kann sich dahin setzen, wo er will.« Sie gibt sich ein bisschen selbstbewusster, als sie eigentlich ist. Anscheinend will sie mir imponieren. Ich gefalle ihr.
    Ich lasse mich neben ihr nieder. Schaue in ihr Mathematikbuch, auf die Kurven in den Koordinatensystemen. »Sinus und Kosinus«, sage ich.
    »Ja, leider. Du verstehst nicht zufällig was davon?«
    »Ist doch nicht schwer. Lass mal sehen.« Nein, ich bin nicht nur in Chemie gut, sondern auch in Mathe. Ha, ha. Ich beuge mich vor, scheinbar bloß, um in ihr Heft zu sehen. In Wahrheit will ich ihr nahekommen. Und sie soll mir nahekommen. Damit es überspringen kann. Das, was sie willenlos machen wird. »War das eben dein Freund? Der Typ mit dem Fahrrad, meine ich?«
    »Der? Nee. Nicht wirklich. Nur ein guter Kumpel. Warum fragst du?«
    »Nur so. Ich heiße übrigens Tristan.«
    »Ich bin Natalie.«
    Ich weiß, Natalie, ich weiß.
    Alles weiß ich.

9
    DAS JOHLEN UND Schreien war bis zu den Fahrradständern zu hören. Sascha fragte sich, welches arme Schwein seine Mitschüler heute wohl wieder in die Mangel nahmen. Er ließ das Schloss einschnappen und trottete Richtung Schulhof, von woher der Lärm kam. Als er um die Ecke bog, blieb er stehen. Das war ja ein richtiger Volksauflauf. Unüberhörbar eine Rauferei, aber wer gegen wen, ließ sich über die Köpfe hinweg nicht erkennen. Es war ihm auch egal.
    »Blöde Fotze!«
    Er horchte auf. Die Stimme klang nach Natalie. Unmöglich, dachte er und ging dennoch näher ran. Kurz erhaschte er einen Blick auf einen dunklen Haarschopf. Natalies Haarfarbe. Mit vorgeschobenen Ellbogen drängte er sich nun zwischen den Gaffern hindurch weiter nach vorne. Es war wirklich Natalie. Mit beiden Fäusten schlug sie auf die Rothaarige ein, die am Tag nach Alinas Selbstmord auf dem Pausenhof Gerüchte verbreitet hatte. Sascha erschrak, als er den Hass in Natalies Gesicht sah. Wenn keiner was tut, dachte er, bringt sie sie um.
    Erst jetzt bemerkte er, dass direkt vor ihm Jan stand. Der Idiot filmte das Ganze auch noch mit dem Handy. Sascha stieß ihn unsanft in die Rippen.
    »Ey, was soll’n der Scheiß!«, brauste Jan auf, doch als er erkannte, wer ihn gestoßen hatte, verflog sein Ärger rasch. »Ach, du bist das, Schmidti. Ist das nicht geil? Frauencatchen schon am frühen Morgen. Und es geht richtig zur Sache.« Grinsend wandte er sich ab und filmte weiter.
    Du Arsch, dachte Sascha. Wieso standen alle nur dumm rum und glotzten? Sahen sie denn nicht, was vor ihren Augen abging? Natalie hatte jede Kontrolle verloren. Sie schlug, spuckte, kratzte, und die Rothaarige hatte alle Mühe, sich zu schützen. Wo waren die Lehrer, wenn man sie mal brauchte? Oder der Hausmeister? Die Rothaarige strauchelte und fiel. Natalie trat mit ihren schweren Boots auf sie ein.
    Sascha drückte Jan seinen Rucksack in die Hand und arbeitete sich durch die grölende Meute.
    »Natalie«, schrie er, »hör auf mit dem Scheiß!« Sie reagierte nicht, trat weiter auf ihr Opfer ein. Bis Sascha sie packte und wegzerrte.
    »Was soll denn das!«, riefen einige, andere: »Verzieh dich, Spaßbremse!«
    Natalie wollte sich befreien, aber Sascha war stärker. »Hau ab!«, schrie sie ihn an und trat gegen sein Schienbein. Ein heftiger Schmerz strahlte von der getroffenen Stelle aus. Sie nutzte den Moment der Schwäche, befreite sich aus seinem Griff und stieß ihn mit beiden Händen gegen die Brust.

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