Stirb leise, mein Engel
war, ließ Natalie ihren Kopf auf Saschas Schulter sinken und legte ihre Hand in die seine. Täuschte er sich, oder war das der Beginn von irgendwas?
»Glaubst du, wir schaffen es irgendwann doch noch, zusammen ins Kino zu gehen?«, fragte er nach einer Weile.
»Klar, warum nicht?«
Da fiel die Schulglocke mit ihrem schrillen Gebimmel in die traute Stille und verkündete das Ende der Pause.
»Ein bisschen noch«, bat Natalie.
So lange du willst, antwortete Sascha, aber nur in Gedanken.
ALS SASCHA VOR dem Kino eintraf, war Natalie schon da. Durch die gläserne Frontscheibe sah er sie im Foyer an einer Säule lehnen und selbstvergessen am Daumennagel kauen. Sie bemerkte ihn erst, als er fast vor ihr stand.
»Ich hab die Karten besorgt«, sagte sie nach einer knappen Begrüßung. »Holst du uns Popcorn und Cola? Ich muss mal kurz wo hin.«
Während Natalie in ihren schweren Boots zur Toilette stiefelte, stellte Sascha sich in die Schlange vor der Verkaufstheke. Nach einer Weile fiel ihm ein Junge mit einer giftgrünen Baseballmütze auf, der von der Straße herein ins Kinofoyer schaute. Er stand genau da, wo er selbst keine zehn Minuten zuvor gestanden hatte. Ehe er sein Gesicht sehen konnte, drehte der Junge sich weg. Er wusste nicht, wieso, doch es kam Sascha so vor, als hätte der andere ihn beobachtet. Als wollte er etwas von ihm.
»Was darf’s sein?«, fragte da das Mädchen hinter dem Tresen.
Sascha kaufte Riesenportionen Popcorn und Cola. Danach ging sein Blick wieder zur Scheibe. Der Junge war nicht mehr da.
»Hallo, hier bin ich!« Ein Finger tippte ihm auf die Schulter.
Er fuhr herum. Es war Natalie.
Anscheinend hatte sie sich die Lippen nachgeschminkt. Wie pralle Kirschen leuchteten sie in ihrem blassen Gesicht.
»Wollen wir reingehen?«, fragte sie.
Ihre Plätze waren in der vorletzten Reihe. Natalie stellte das Popcorn auf die Lehne zwischen ihnen, die beiden Cola-Becher in die Halter an den Sitzen. Sie griff sich eine Handvoll Popcorn, steckte einiges davon in den Mund und ließ sich in ihren Sessel sinken. »Von mir aus kann’s losgehen«, sagte sie mit vollem Mund.
Wenig später hörte sie abrupt auf zu kauen und schaute wie gebannt auf etwas im Saal. »Ist was?«, fragte Sascha, aber sie hörte ihn nicht. Seine Augen folgten ihrer Blickrichtung. Da bemerkte er in einer der vorderen Reihen den Jungen mit der giftgrünen Baseballkappe. Kannte sie ihn etwa?
»Wer ist das?«, fragte er Natalie, doch sie hörte ihn wieder nicht. Er stupste sie an. »Hallo, Erde an Natalie! Bitte kommen!«
Sie zuckte zusammen und rollte die Schultern, wie um etwas abzuschütteln. »Was?«
»Der Typ mit der Baseballmütze, den du die ganze Zeit anstarrst – wer ist das?«
»Ich starre niemanden an. Ich war bloß in Gedanken.«
Dann ging das Licht aus, und die Vorstellung begann.
ES MUSSTE WÄHREND des Films geregnet haben, denn die Straße glänzte nass im Licht der Laternen. Als Sascha mit Natalie ins Freie trat, regnete es nicht mehr, doch ein kühler Wind wehte sie an. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch. »Musst du wirklich schon um zehn zu Hause sein?«, fragte er.
»Unbedingt. Sonst kriegt meine Mutter einen Anfall.«
Sascha schwieg. Nicht nur der Film hatte ihn enttäuscht. Auch zwischen ihm und Natalie war nichts in die Gänge gekommen. Er hatte gehofft, sie werde sich wieder an ihn schmiegen, so wie im Geräteraum. Aber sie schien ihm eher auszuweichen. Okay, tröstete er sich nun, das ist unser erster gemeinsamer Abend. Der im Übrigen noch nicht zu Ende ist.
»Dann bring ich dich wenigstens nach Hause.«
»Musst du nicht in die andere Richtung?«
»Kein Problem. Ich kann heimkommen, wann ich will.«
Das stimmte nicht ganz, aber seine Mutter schob wieder mal eine Spätschicht.
»Nee du, ist nett gemeint, aber lass mal.«
»Ich bin doch dein Beschützer. Schon vergessen?« Er lächelte.
»Sei mir nicht böse, Sascha, aber heute wär mir das echt zu viel. Das hat nichts mit dir zu tun. Du bist superlieb.«
Sein Herz rutschte eine Etage tiefer. War das eine nett verpackte Abfuhr gewesen?
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station lahmte das Gespräch zwischen ihnen, bis es schließlich ganz verstummte. Jeder hing nur noch seinen eigenen Gedanken nach, wie zwei Krieger nach einer verlorenen Schlacht.
Sie waren zwei Minuten vor der Ankunft des Zuges auf dem Bahnsteig. Als er schon einfuhr, fasste Natalie in ihre Hosentasche und zog etwas heraus, das sie in der Faust einschloss. »Ich
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