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Stirb, mein Prinz

Stirb, mein Prinz

Titel: Stirb, mein Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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versuchte Anni es mit einem Lächeln. »Wie heißt du denn?«
    Nichts. Nur dieser starre Blick.
    Dr. Ubha stand hinter ihnen und hatte die Situation im Blick. Sie war als Erste im Zimmer gewesen, nachdem sie die Schreie gehört hatten. Hatte sich ducken müssen, um dem Plastikbecher auszuweichen, mit dem er nach ihr geworfen hatte. Als sie ins abgedunkelte Zimmer gekommen waren, hatten sie einen Wasserkrug gesehen, der umgekippt am Boden lag. Der Junge musste ihn umgestoßen haben. Der Fußboden war nass. Der Junge hatte wild gestrampelt und um sich getreten, hatte versucht, sich die Kanüle aus dem Handrücken zu reißen und die straffgezogene Bettdecke abzuschütteln.
    Dr. Ubha war sofort zu ihm gegangen. Als er gesehen hatte, dass sie sich ihm näherte, hatte er die Kanüle auf der Stelle vergessen. Mit nackter Panik in den Augen hatte er ihre Arme gepackt und versucht, sie von sich wegzustoßen. Anni war ihr zu Hilfe geeilt, doch die Ärztin, die gespürt hatte, dass Angst, nicht Aggression, der Grund für die heftige Reaktion des Jungen war, hatte sich sanft aus seinem Griff befreit und war einen Schritt zurückgetreten. Sofort hatte er die Arme sinken lassen.
    Da es angesichts der drei Frauen im Raum keine Möglichkeit gegeben hatte, durch die Tür zu entkommen, hatte der Junge sich rückwärts gegen das Kopfende des Betts gedrückt, so als wolle er hineinkriechen. Dabei hatte er gekeucht und geschluchzt. Anni war aufgefallen, dass sein Verhalten absolut nichts Gewalttätiges hatte. Und er hatte noch kein einziges Wort gesagt. Da war immer nur dieser unbewegte Blick. Und Schweigen.
    Als klar wurde, dass von ihm keine weitere Gegenwehr zu erwarten war, wechselte Anni einen Blick mit Marina und trat vor. Sofort begann der Junge erneut zu wimmern und drückte sich noch fester nach hinten. Er zitterte vor Angst, und seine Augen, die die ganze Zeit über ins Leere gestarrt hatten, gingen zu Anni. Als sich ihre Blicke trafen, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Im Zuge ihrer Arbeit begegnete sie fast täglich verängstigten und verzweifelten Menschen, aber noch nie hatte sie bei jemandem eine derart abgrundtiefe Todesangst erlebt. Sie zuckte innerlich zusammen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was dieser Junge alles durchgemacht hatte.
    »Okay …« Sie brach den Blickkontakt ab und trat ein wenig zurück. Dann holte sie sich von hinten einen Stuhl heran, den sie langsam ans Fußende des Betts schob. Sie spürte, dass der Junge sie die ganze Zeit beobachtete. Sie setzte sich. Sah ihn an. Rang sich ein Lächeln ab.
    »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Anni. Und wie heißt du?«
    Nichts.
    »Du hast doch einen Namen, oder?«
    Nichts. Nur diese Augen, dieser Blick …
    Anni konnte mit traumatisierten Frauen umgehen, mit Vergewaltigungsopfern und misshandelten Ehefrauen, aber bei Kindern war sie hilflos. Sie war im Umgang mit ihnen aus­gebildet worden und hatte jede Schulung gewissenhaft mit­gemacht, aber trotzdem hatte sie Mühe, einen natürlichen Umgang mit ihnen zu finden. In der Regel gab es irgendein Thema, auf dessen Grundlage man ein Gespräch aufbauen, eine gemeinsame Beziehung anknüpfen konnte. Das konnte alles Mögliche sein – von Ärger mit den Geschwistern, Schule, Fußball bis hin zu Doctor Who . Irgendetwas gab es immer. Aber all das war angelerntes Wissen, es kam nicht aus ihrem Gefühl. Außerdem starrte er sie die ganze Zeit so unbewegt an. Diese Augen … Wenn sie selbst Kinder gehabt hätte, dann wäre es ihr vielleicht leichter gefallen. Aber sie hatte keine. Ihre Schwester hatte zwei, doch die lebte in Wales, und sie sahen sich nicht sehr oft.
    Anni nahm wahr, wie ein zweiter Stuhl neben ihren gestellt wurde. Marina setzte sich. Sofort ließ Annis Anspannung ein wenig nach.
    Marina lächelte dem Jungen zu. »Hallo.«
    Anni wusste nicht, wie sie es angestellt hatte, doch irgendetwas an Marinas Lächeln musste zu dem Jungen durchgedrungen sein. Er antwortete zwar nicht, wirkte aber auch nicht mehr ganz so verängstigt.
    »Ich bin Marina.« Erneut lächelte sie. Falls sie das Ausmaß der Angst in seinen Augen sah, ließ sie sich davon nicht aus der Ruhe bringen. »Keine Sorge, du musst dir die Namen nicht merken. Wie geht es dir? Tut dir irgendwas weh?«
    Der Junge vergaß seine Fluchtgedanken und rutschte vorsichtig hin und her, als spüre er auf ihre Frage hin in seinem Körper nach. Schließlich hielt er seine verbundene Hand in die Höhe.
    »Ja, du hast dir die Finger gebrochen. Aber das

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