Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Nachttisch, setzte mich auf die Bettkante und betrachtete sie. Das, was ich nachts noch empfunden hatte, verging. Ich konzentrierte mich allein auf ihr Gesicht. Die verkniffenen Züge, die Falten, die tränenden Augen, all das war verschwunden und hatte dem Aussehen einer zwanzig Jahre jüngeren Frau Platz gemacht. Mit einem Mal wusste ich sogar, wie sie als Kind ausgesehen hatte. Als ich sie berührte, war ich ganz ruhig. Unter meinen Fingern gab die kalte Haut nach, ich spürte die festen Knochen. Ihre Wange war glatt. Ich küsste sie. Keine Ahnung, warum, aber es fühlte sich richtig an. Ich berührte ihr Gesicht und ihre Wange. Dabei schloss ich die Augen und dachte an meine innig geliebte Mummy, an ihren Körper, an den ich mich gekuschelt hatte.
Das war meine zweite Begegnung mit dem Tod. Er hatte für mich nichts Entsetzliches, sondern wirkte ganz normal. An ihm war nichts Beängstigendes, vielmehr war er schön und stimmte mich froh. Er enthielt das Versprechen, dass es jetzt besser war, denn der schleichende Verfall des Lebens war beendet.
Vielleicht ist mein Wunsch, Sterbehilfe zu leisten, damals entstanden. Oder auch schon an dem Tag, als ich mich im Alter von vier an meine Mutter geklammert habe, in jenen kostbaren letzten Stunden, ehe andere kamen und uns störten. Nicht ich habe die Schönheit des Todes erfunden, sie spiegelt sich in Gedichten und Romanen wider, denn die letzten Augenblicke eines Lebens können großartig sein. Wenn der Sterbende jung ist oder liebt, können sie sogar perfekt sein. Die Geschichte von Romeo und Julia mag als Tragödie gelten, doch in Wahrheit ist es eine Liebesgeschichte. Wer wäre nicht lieber unsterblich, als im Alter dahinzusiechen oder dement zu werden?
Meine Mummy bleibt für alle Zeit jung und schön, und sie ist immer bei mir.
Vierunddreißig
In drei Tagen wird das Urteil gesprochen. Ich fürchte mich vor diesem Tag, gleichzeitig sehne ich ihn herbei. Ich möchte, dass es endlich vorbei ist. Meine Tage sind leere Seiten, die Lee nur zu gern füllt. Ich frage sie nicht, wann sie nach Deutschland zurückkehrt, und sie erkundigt sich nicht nach meinen Plänen. Gemeinsam lassen wir uns treiben.
»Oh Alice«, sagt sie. »Das ist ja, als wäre man in einer Kathedrale.« Sie steht unter dem imposanten Kirchendach und schaut hoch, wie ein Tourist, der in New York die Wolkenkratzer bestaunt. »Wie ist denn ein so kleiner Ort zu so etwas gekommen?«
»Das verdanken wir der Wolle. In der Zeit der Tudorkönige war Lavenham ein Handelszentrum.«
Wie vertraut mir die Historie von Lavenham ist. Selbst wenn man hier nur irgendwo einen Schluck trinken will, findet man oben auf der Getränkekarte einen kleinen Text, in dem die Herstellung von Wolle, Garnen und Stoffen während der Tudorherrschaft beschrieben wird. Auch sonst stößt man überall auf die Architektur und die Wahrzeichen aus der Epoche von Heinrich VIII . Das war die Zeit, als kleine Webereien die Gegend hier dominierten. Für mich ist all das längst selbstverständlich geworden, Lee dagegen ist schwer beeindruckt und bewundert die geschnitzten Rosen an den Deckenstreben.
»Wie aus Sakrileg . Ich finde, Dan Brown wäre besser hierhergekommen, als nach Schottland zu reisen.«
»Die Amerikaner stehen nun mal auf die schottischen Highlands.«
Auch ich richte den Blick in die Höhe. Als Lee die alten Inschriften entziffert, lasse ich mich von ihrer Begeisterung anstecken. Das letzte Mal war ich mit Smith hier.
Wir durchqueren das stille Kirchenschiff. Ringsum brennen Kerzen. Am Ausgang liegt ein dünnes, aufgeschlagenes Gästebuch. Neugierig trete ich näher und lese die letzten Eintragungen.
Für meinen Sohn John, der in Afghanistan dient. Der Herr möge ihn mir gesund zurückbringen.
Betet für unseren Nachbarn Reg, der an Darmkrebs leidet.
Ich denke an die Polizistin, die in der letzten Woche bei der Ausübung ihres Dienstes von einem betrunkenen Jugendlichen erstochen wurde.
Ich blättere zurück, entdecke ausschließlich Zeilen, in denen es um Krankheit und Schmerz geht, eine Chronik des Leids. Wenn das Entzünden einer Kerze und die Bitte um Gebete etwas nützen würden, läge hier ein weitaus dickeres Gästebuch.
»Was ist das?« Lee späht mir über die Schulter.
Ich mache ihr Platz. Sie blättert durch die Seiten, deutlich langsamer als ich. Dann kramt sie aus der Gesäßtasche ihrer Hose eine Münze hervor, lässt sie in die Sammelbüchse fallen und sucht eine dünne weiße Kerze aus. Sie
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