Stirb mit mir: Roman (German Edition)
ja nicht der einzige Mann auf der Welt. Trotzdem schade. Mit Männern scheinst du kein Glück zu haben.« Er stellte den Ton wieder lauter.
Wir sahen zu, wie Sanitäter den verletzten Fahrer auf eine Trage legten und festschnallten. Mit letzter Kraft reckte er den erhobenen Daumen in die Kamera.
»Der hat noch mal Schwein gehabt«, sagte mein Vater.
Meine Mutter hatte den Abwasch gemacht und scheuerte die Arbeitsflächen. In der Küche roch es wie in einem Schwimmbad. Als ich einen Schritt auf sie zutrat, hob sie die Hand. »Bleib, wo du bist. Der Fußboden ist frisch geputzt.« Ihre Füße steckten in Plastikbeuteln, blau, mit einem Gummizug um die Knöchel, wie man sie aus Operationssälen kennt. Sie sahen aus wie überdimensionale Stiefeletten.
»Können wir denn miteinander reden?«
»Was? Ja sicher, mein Schatz. Fragst du deinen Dad mal, ob er eine Tasse Tee haben möchte?«
Sie polierte den Wasserkessel. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Chrombeschichtung, wurde davon in die Breite gezogen. Sie ließ den Kessel bis obenhin volllaufen und griff nach der großen Teekanne. Wie jedes Mal goss sie zu viel Tee auf.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer und holte Dads Tablett.
»Er sagt, dass er Tee möchte.«
Sie hatte ihm bereits eine Tasse eingeschenkt, die auf der Untertasse klapperte, als sie ihm den Tee brachte. Alles bei den beiden lief nach einem Ritual ab. Warum fragte sie überhaupt nach, ob er Tee wollte, wenn er doch noch nie Nein gesagt hatte? Ich schauderte und war dankbar, dass mir solche leeren Routinehandlungen erspart geblieben waren. Ich hörte, wie mein Vater sich für den Tee bedankte, dann wurde die Tür zum Wohnzimmer wieder geschlossen. Mit knisternden Plastikbeuteln kehrte meine Mutter zurück. Ich stählte mich.
»Zucker?«
Schon seit meiner Jugendzeit trank ich den Tee ohne Zucker. Trotzdem wartete meine Mutter auf meine Antwort und griff schon nach dem Zuckerlöffel, der in einem Hügel weißer Kristalle steckte. Ich schüttelte den Kopf, nahm die Tasse und führte sie an die Lippen. Bei Tee kauft meine Mutter ausschließlich die Hausmarke von Coop. Nach dem ersten Schluck füllte der starke Tanningeschmack meinen Mund aus. Während meine Mutter durch die Küche tapste, setzte ich mich an der Tür auf einen Hocker. Dieses scheußliche Möbelstück gehörte samt dem viereckigen Tisch mit der Resopalplatte zur Frühstücksecke. Dort nahm meine Mutter all ihre Mahlzeiten ein. Mit ihrer knisternden Fußbekleidung trat sie an den Tisch und wischte unsichtbare Krümel weg. Ihren Tee rührte sie nicht an.
»Wie alt warst du, als du Dad kennengelernt hast?«, fragte ich zum Auftakt.
»Neunzehn. Es war auf der Party einer gemeinsamen Freundin. Er kam sofort auf mich zu und fragte, ob ich mit ihm ins Locarno gehen wolle. Zu der Zeit habe ich noch gern getanzt. Das fanden wir beide schön. Deshalb habe ich auch nie begriffen, warum du nicht tanzen gehst. Wenn ich noch jung wäre, könnte mich keiner davon abhalten.« Mit wehmütigem Lächeln machte sie ein paar schlurfende Schritte. Als hätte ich allein sie altern lassen, sah sie mich vorwurfsvoll an. Wäre das Leben meiner Eltern anders verlaufen, wenn sie ein eigenes Kind gehabt hätten, ihr eigen Fleisch und Blut? Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob unsere unterschiedlichen Gene die Kluft zwischen uns hatten entstehen lassen. Oder entfremden sich alle Kinder irgendwann von ihren Eltern?
»Du wirst es nicht glauben, aber ich bin in der letzten Woche zum Tanzen gegangen. Im Gemeindehaus«, sagte ich und behielt dabei für mich, dass ich nicht getanzt hatte. Ich war frühzeitig aufgebrochen. Smith und ich waren zu den Schrebergärten hinausgefahren. Es ging um einen Test, den er sich für mich ausgedacht hatte.
»Wirklich?«, fragte sie misstrauisch. »Wie bist du denn dazu gekommen?«
»Ich habe einen neuen Freund, Mum«, antwortete ich und war überrascht, wie stolz ich klang. Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, einen albernen Begriff wie »Freund« zu benutzen, als sei ich ein Teenager und würde mich der Sprache meiner Mutter anpassen.
Ihr Gesicht erstrahlte wie die Sonne. »Oh, Alice, wirklich? Ist er nett?«
Was für eine idiotische Frage. Es kostete mich Kraft, nicht bissig zu werden.
»Was macht er denn beruflich?«
»Er ist Statistiker.«
» Was ist er?«
»Statistiker. Er arbeitet in London bei einer Versicherung und erstellt dort Wahrscheinlichkeitsrechnungen.«
»Ah, bei einer Versicherung. So jemanden kann man
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