Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Vater, denn vor diesem Gespräch fürchtete ich mich weniger. Es war an einem Sonntag, wir hatten gerade zu Mittag gegessen. Solange ich denken kann, hat mein Vater im Wohnzimmer vor dem Fernseher gegessen, die Mahlzeit auf einem Tablett auf den Knien. Ich aß mit meiner Mutter in der Küche. Als sie meinen Teller abräumte, ging ich zu ihm. Er sah auf. An seiner erhobenen Gabel steckte ein Brocken fettiges Rindfleisch, Soße tropfte ihm aufs Hemd. Ich war froh, dass ich kein Fleisch aß. Solche Anblicke hatten mich schon zu einer Vegetarierin gemacht, noch ehe ich Fleisch aus Gewissensgründen abzulehnen begann.
»Na, Schätzchen? Was gibt’s?«
Er nahm an, dass ich aus einem bestimmten Grund hereingekommen war, und ich fragte mich, ob es jemals Zeiten gegeben hatte, in denen ich einfach nur seine Gesellschaft gesucht hatte, ob wir jemals unbeschwert miteinander umgegangen waren. Ich bezweifelte es.
Er sah zu, wie ich mich ihm gegenüber in den Sessel setzte. Der Fleischbrocken an der Gabel schwebte immer noch auf halber Höhe. Im Fernseher rasten Männer mit Sturzhelmen und schnellen Autos um eine Bahn, der Raum war von lautem Röhren erfüllt.
Mir war, als hätte ich Sand im Mund. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
Fakten ändern sich nicht. Das Einzige, was sich ändert, ist die Art, wie wir sie sehen. Was Smith und ich planten, würde für andere völlig abartig klingen, brutal. Mörderisch. Deshalb musste ich die Sachlage aus unserer Sicht darstellen und die Interpretationen der anderen vergessen. Es war ein Akt der Liebe. Natürlich würde ich Dad nicht erzählen, dass ich Smith Sterbehilfe leisten würde. Das ginge zu weit. Ich musste ihn lediglich vorbereiten – irgendwie.
Wie sahen zu, wie die Rennwagen mit quietschenden Reifen über die Bahn jagten, bis ich den Blick meines Vaters auf mir spürte. Er schluckte den letzten Bissen herunter und legte das Besteck klappernd auf dem Teller ab, was bedeutete, dass sein Mahl beendet war. Dann stellte er das Tablett auf den Fußboden, wo meine Mutter es später abholen würde. Er schluckte noch einmal.
»Ist in der Arbeit alles in Ordnung, Alice?«
Meine Arbeit? Die war gedanklich so weit entfernt, dass ich bei dem Wort zusammenzuckte. »Ja. Warum fragst du?«
»Du wirkst ein bisschen zerstreut.« Sein Blick kehrte zum Fernseher zurück. Er nahm die Fernbedienung und stellte den Ton eine Spur leiser.
»Vielleicht bin ich das, aber nicht wegen der Arbeit. Ich habe da jemanden kennengelernt.«
»Oh. Einen Mann?«
Was dachte er denn? »Ja, Dad. Einen Mann.«
Er räusperte sich. Es klang, als habe er den Rindfleischbrocken noch im Hals. »Ist es etwas Ernstes?«, fragte er und starrte auf den Fernseher, als stünde dort die Antwort. Am liebsten hätte ich mir die Fernbedienung geschnappt und sie ihm an den Kopf geworfen.
»Ja, Dad, ich glaube schon. Er ist etwas ganz Besonderes.«
»Mannomann, hast du das gesehen?« Ein roter Ferrari war gegen die Bande geprallt. Die Zuschauer sprangen zurück.
»Die Sache ist nur, dass es keine normale Beziehung ist. Wir planen nicht für die Zukunft. Hochzeit, Kinder – um solche Dinge geht es nicht.«
Der Fahrer wurde aus seinem zerquetschten Wagen gezogen und legte eine Hand auf seinen Helm, als säßen dort die Schmerzen. Dad wandte den Blick von dem Verletzten ab. »Möchtest du denn keine Kinder? Weiß deine Mutter es schon?«
»Es bedeutet nicht, dass ich keine Kinder will, sondern dass uns die Zeit dazu fehlt. Er hat nicht mehr lange zu leben.«
»Nicht mehr lange …« Dad sah mich mit offenem Mund an und entblößte dabei gelb verfärbte Zähne. Dann riss er die Augen auf. »Er hat doch kein Aids, oder?«
»Nein, Dad. Mein Gott, musst du denn immer gleich an so etwas denken?«
»Warum denn nicht? Du weißt doch, wie es heutzutage ist. Solche Leute laufen ja nicht mit Schildern herum.«
»Er hat kein Aids. Trotzdem verläuft seine Krankheit tödlich.« Ich sah, wie er in seinem abgewetzten Sessel zurückwich und so schmerzerfüllt wirkte, als sei er gerade selbst mit dem Wagen in die Bande gekracht.
»Das ist aber ein schönes Pech. Endlich lernst du mal einen kennen, und dann ist er krank. Krebs, oder?«
Ich sagte nichts dazu. Wenn Dad davon ausging, dass Smith Krebs hatte, würde er dessen Tod leichter akzeptieren.
»Stellst du ihn uns einmal vor?«
Ich schüttelte den Kopf. »Besser nicht. Angesichts der Umstände.«
»Ja, richtig. Wäre wohl auch sinnlos. Eine Schande. Aber er ist
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