Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Vorlesung über Der St.-Agnes-Abend von Keats auf dem Plan. Dabei geht es übrigens nicht um eine romantische Liebesgeschichte, sondern um die sinnliche Auslegung einer Vergewaltigung. Das Thema hätte die Studenten sicherlich gefesselt. Ich hatte mich schon auf die Reaktionen der Pseudofeministinnen gefreut, denn das Gedicht ist ja alles andere als politisch korrekt. Täuschen Sie sich also nicht, Miss Austin. Die Studenten, die auf dem Video einen gebannten Eindruck machten, saßen kurz darauf in der Studentenkneipe, wo sie Wodka getrunken und gekokst haben. Den Beweis dafür haben Sie vorhin selbst gesehen.«
Cate bleibt eine Zeit lang stumm. Dann fragt sie: »Wer war der junge Mann?«
»Einer, der keine Rolle spielt. Alex wird sich hier nicht mehr lange halten. Für seinen letzten Aufsatz habe ich ihm ein Ungenügend gegeben. Falls er bei der nächsten Arbeit wieder versagt, kommt er nicht in das letzte Studienjahr. Und er wird wieder versagen.« Ich leere mein Glas und schiebe es zur Seite.
»Berührt Sie das denn nicht? So etwas ist doch eine Schande. Immerhin geht es um seine Zukunft. Der Junge dürfte kaum älter als achtzehn sein.«
»Das ist nicht mein Problem. Ich habe ihn nicht gezwungen, Drogen zu nehmen.«
Elf
Wir alle haben die Wahl. Ich nehme an, Sie wissen das ebenso gut wie ich, oder? Wir haben die Wahl zu leben, zu atmen oder uns mithilfe von Drogen zu vernichten. Für all das entscheiden wir uns, nichts davon geschieht zufällig. Vielmehr kommen bestimmte Möglichkeiten zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation auf uns zu, und wir entscheiden uns dafür oder dagegen. Smith hatte seine Wahl getroffen, denn aufzugeben ist auch eine Entscheidung. Hinter jeder Handlung oder Entscheidung steckt ein Motiv, man muss nur aufmerksam danach suchen. Auf die Weise analysiere ich die Werke der Dichter. Ich suche nach dem Muster hinter den Worten, nach den Themen und Botschaften unter der Oberfläche. Danach richte ich mich. Ich fahnde nach der Bedeutung, dem Leitmotiv des Lebens.
Deshalb glaube ich auch nicht, dass ich, kurz bevor ich Smith kennenlernte, zufällig auf die Geschichte von Armin Meiwes gestoßen bin. Er war damals schon eine Nachricht von gestern, füllte nur noch eine Zeitungsspalte, nicht einmal mehr die Titelseite. Die Zeitung gehörte mir nicht, ich kaufe mir nur selten eine. Irgendjemand hatte sie im Aufenthaltsraum der Fakultät auf einem Stuhl liegen lassen. Dort wartete sie auf mich. Der Aufenthaltsraum war leer, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise befinden sich dort immer ein paar Dozenten und rangeln um einen Platz am offenen Fenster, in der Hand eine Zigarette. Oder sie stehen plaudernd an der Kaffeemaschine. Doch seinerzeit ging es auf das Ende des Semesters zu, und es war warm. Ich nahm an, meine Kollegen saßen draußen auf dem Rasen und korrigierten dort ihre Stapel mit Seminarpapieren. Oder sie waren in ihren Büros und bereiteten sich auf den anstehenden Exodus vor. Jedenfalls war ich allein in dem Raum. Die Zeitung lag in Reichweite, auf der betreffenden Seite aufgeschlagen, als ginge es darum, meinen Blick darauf zu lenken. Die Überschrift verkündete: »Armin Meiwes kein Mörder.« Der Satz war der Aussage des Verteidigers entnommen. Ich legte die Zeitung auf meinen Schoß und las den Artikel.
Armin Meiwes (44) hat einen Mann, den er im März 2001 im Internet kennenlernte, getötet und teilweise verzehrt. Die Anklage lautete auf Totschlag. Meiwes wurde zu einer Gefängnisstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Im vergangenen Jahr hat das Berufungsgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet, um festzustellen, ob Meiwes sich des Mordes schuldig gemacht hatte. Der Täter wehrt sich gegen die Anklage und erklärt, er habe lediglich die Anweisungen eines willigen Opfers ausgeführt. Er gab jedoch zu, den in Deutschland arbeitenden Computerspezialisten Bernd Jürgen Brandes in seinem Haus in Rotenburg getötet zu haben.
Sein Verteidiger vertrat die Ansicht, der Angeklagte habe »auf Wunsch« getötet. Dabei handele es sich um eine Form von illegaler Euthanasie mit einer Höchststrafe von fünf Jahren. Die Verteidigung machte geltend, dass es zwei einvernehmlichen Erwachsenen in solchen Fällen gestattet sein müsse, nach ihrem Gutdünken zu handeln. Überdies gebe es keinen Beweis dafür, dass Brandes unzurechnungsfähig gewesen sei, als er den Wunsch äußerte, getötet und verzehrt zu werden. Vielmehr habe er mit Meiwes darüber Witze
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