Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Haftstrafe nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, ich habe ja nichts Unrechtes getan. Nicht im Geringsten. Das Leben, die Luft, die wir atmen, sind Gegebenheiten. Durch einen Zufall kommen Moleküle, Chromosomen und Gene zusammen, und schon existieren wir. Wir sind im Mutterleib herangewachsen und haben uns körperlich entwickelt, statt vorzeitig als Zellenklumpen abgesaugt und in einer Abfalltonne des Krankenhauses entsorgt zu werden. Unser Überleben hing von äußeren Umständen ab; wenn sie gut waren, sind wir da. Wir beginnen mit unserem Leben, erhalten obendrein unser Bewusstsein und schließlich sogar ein Gewissen. Wir bilden Gedanken, handeln, wählen. Wir entscheiden, ob wir atmen wollen oder nicht.
Wer also sind diese Menschen, die glauben, sie könnten einen Selbstmord verdammen, als gebe es Gesetze, die das Atmen unter Schutz stellen. Das Leben ist kein Recht, es ist eine Wahl. Denken Sie bei jedem Atemzug daran. Atmen Sie aus und ein. Entscheiden Sie sich immer wieder aufs Neue dafür. Spüren Sie, dass Sie leben, und erkennen Sie, dass Sie sich für das Leben entschieden haben. Und jetzt halten Sie den Atem an. Bitte tun Sie es. Eine oder zwei Sekunden lang. Habe ich das Recht, Ihnen aufzutragen, weiterzuatmen? Hat irgendjemand dieses Recht? Nein! Deshalb wüsste ich auch nicht, weshalb mir eine Gefängnisstrafe drohen sollte. Ich sehe weiter als das Gesetz, das meine Inhaftierung verlangt, und bin sicher, Sie können das ebenfalls. So, und jetzt atmen Sie weiter.
Dennoch hat Cate Austin gesagt, es könnte sein, dass ich inhaftiert werde. Ich bin nicht naiv. Ich weiß, was mir im Gefängnis zustoßen kann. Sehen Sie mich doch an. Ich bin attraktiv, klug und zu allem Überfluss auch noch Akademikerin. Welche Chance hätte ich gegen Süchtige, Diebinnen, Prostituierte, Kriminelle? Sie würden mir das Gesicht aufschlitzen, mich beneiden und verhöhnen. Gegen Worte weiß ich mich zu wehren, aber nicht gegen einen körperlichen Angriff. Sicher, ich bin weltgewandt, trotzdem fürchte ich mich vor einem gezückten Messer, vor dem Einstich einer Spritze, vor einer rasenden Frau, die nichts mehr zu verlieren hat.
Ich werde ihnen nicht gestatten, mich ins Gefängnis zu stecken. Es gibt immer eine Wahl, und ich habe mich entschieden zu atmen und zu leben. Ich werde einen Ausweg finden.
Dr. Gregg wird gleich hier sein. Cate hat gesagt, es stehe in seiner Macht, mich vor dem Gefängnis zu bewahren. Nach ihren Worten kann er mich in eine Klinik einweisen, wo man, anders als im Gefängnis, keine feste Zeit absitzen muss. Sobald sie dort erkennen, dass ich bei klarem Verstand bin, werde ich entlassen. Nach wenigen Wochen könnte ich wieder frei sein. Bestenfalls sogar schon nach Tagen.
Es macht mich trotzdem wütend. Wie kann jemand es wagen, hierherzukommen und mich zu bewerten? Anscheinend gibt es nur zwei Möglichkeiten: Ich bin entweder schlecht oder wahnsinnig. Eine Kriminelle oder ein trauriger Fall. Undenkbar scheint zu sein, dass ich geistig gesund bin und trotzdem Sterbehilfe geleistet habe. Wie leid ich diese einfältigen Menschen bin, die meine Handlungen falsch auslegen. Die mich lieber als labil abstempeln, statt sich den Vorurteilen ihrer vermeintlich gesunden Welt zu stellen. Ich bin aufgebracht, dermaßen aufgebracht, dass ich am liebsten Glas zerschmettern würde. Ich möchte nur noch schreien. Kein Wunder, dass ich mich seit Kurzem krank fühle, an Kopfschmerzen und Schwindelanfällen leide.
Während es weiter in mir brodelt, sehe ich seinen Wagen kommen, eine Familienkutsche in konservativem Blau. Dr. Gregg trägt ebenfalls Blau, eine Jacke mit Hahnentrittmuster, eine Cordhose, sichelförmige Brillengläser, die funkeln, als er hochschaut. Ich stehe am Fenster und sehe zu ihm hinab. Er winkt mir zu.
Er ist mein Zuschauer, ich habe auf ihn gewartet.
Zwölf
»Hallo, Miss Austin, Charles Gregg hier. Sie hatten darum gebeten, dass ich mich nach meinem Treffen mit Alice melde. Gestern Nachmittag war ich bei ihr.«
Cate legte ihr Sandwich ab und schluckte den Bissen Thunfischmayonnaise herunter. »Gut, vielen Dank, dass Sie so rasch anrufen. Ich habe mich zuletzt am Montag mit ihr getroffen. Da hat sie mir ein Video vorgeführt, in dem sie eine Vorlesung über die Zeit und den Tod hält. Es war sehr beeindruckend.«
»Kann ich mir denken«, gab er trocken zurück. »Haben Sie ihr gezeigt, wie fasziniert Sie waren?«
Cate dachte nach. »Doch, ja. Ich habe gesagt, ihre Studenten hätten
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