Stirb mit mir: Roman (German Edition)
ebenso gebannt gewirkt, wie ich es war.«
»Menschen wie Alice brauchen immerzu Lob und Bestätigung. Hatten Sie den Eindruck, dass Alice sich als einzigartig betrachtet? Und zugleich die Mehrheit der Menschen verachtet?«
Über die Antwort musste Cate nicht lange nachdenken. »Na ja, sie hat sich sehr abfällig über die Liebesauffassung der meisten geäußert. Außerdem ist sie der Ansicht, dass ihr Entschluss, Sterbehilfe zu leisten, völlig falsch verstanden wird. Nach ihrer festen Meinung geht das niemanden etwas an. Sie spricht von freiem Willen und so weiter.«
»Das passt. Die Gesetze unseres Landes interessieren sie nicht.«
Cate fühlte sich im Nachteil, als sei Dr. Gregg bereits zu einem Ergebnis gekommen und dabei, sie in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. »Welchen Eindruck hatten Sie sonst von ihr?«
»Den gleichen wie Sie. Nur verstärkt.«
»Was genau bedeutet das?«
Sie hörte Papier rascheln, als würde er eine Akte durchblättern. »Sagt Ihnen der Begriff Egomanie etwas?«
»Ich denke schon«, entgegnete sie vorsichtig. »Mir war nur nicht klar, dass es sich dabei um einen medizinischen Begriff handelt.«
»Tut es auch nicht. Im neunzehnten Jahrhundert war es die Bezeichnung für das, was wir heute eine narzisstische Persönlichkeitsstörung nennen, aber ich finde, Egomanie fasst es treffend zusammen. Für mich ist Alice ein klassischer Fall. Bei dieser Störung gibt es neun Hauptmerkmale, und nach meiner bisherigen Einschätzung liegt sie bei den meisten im oberen Bereich der Skala. Sie wird von dem Wunsch nach Macht beherrscht, ist arrogant und fühlt sich berechtigt, nach ihrem Gutdünken zu handeln. Ein weiteres Kennzeichen ist der Mangel an Empathie. Oder haben Sie bei Ihren Begegnungen mit ihr Empathie feststellen können?«
Cate dachte an Alices Gleichgültigkeit gegenüber dem süchtigen Alex. »Kaum. Allerdings hat sie einiges investiert, um ihre Eltern zu schützen. Deren Gefühle scheinen ihr wichtig zu sein.«
»Ein Mensch muss fünf bestimmte Wesensmerkmale aufweisen, bevor er als narzisstisch gelten kann. Selbst wenn sie über eine gewisse Empathie verfügt, kann man ihren Worten entnehmen, dass sie über die Maßen bewundert werden will. Auch ihre ausgeprägte Arroganz ist offensichtlich. Sie wollte von mir wissen, welches Recht ich habe, sie zu beurteilen. Für mich zeigt ihr Verhalten die typischen egomanischen Symptome.«
Daraufhin schwiegen beide. Für einen Moment wusste Cate nicht, wie sie die Stille unterbrechen sollte. Dann fragte sie: »Welche Merkmale gibt es denn noch, falls Alice egomanisch ist?«
»Neid gehört dazu. Auch andere Menschen auszunutzen. Wie eine Ratte ist ein Egomane in der Lage, die Schwächen anderer zu riechen. In der Arbeitswelt gehören sie oft zu den Besten, sind jedoch rücksichtloslos und neigen dazu, andere zu schikanieren.«
»Ja, das kann ich mir bei ihr gut vorstellen.« Cate erinnerte sich daran, wie einschüchternd Alice auf sie gewirkt hatte. »Glauben Sie, dass sie auch gefährlich ist?«
»Hängt davon ab. Wenn ein Mensch denkt, dass er über dem Gesetz stehe, fühlt er sich zu allem berechtigt. Wenn er dann auch noch ohne Empathie ist, könnte er tatsächlich höchst gefährlich werden.«
Cate holte Luft und sagte sich, dass sie diese Entwicklung hätte vorhersehen müssen. »Heißt das, Sie werden Alice behandeln? Ist Egomanie überhaupt heilbar?«
»Die meisten Psychiater halten sie für unheilbar. Sie betrachten eine derartige Störung als Teil der Persönlichkeit, die kaum noch zu ändern ist. Die kognitive Verhaltenstherapie kann allerdings einen gewissen Einfluss darauf nehmen, indem man mit dem Patienten an den verzerrten Wahrnehmungen arbeitet. Was letztlich bedeutet, dass ich Alice noch genauer untersuchen muss. Deshalb habe ich sie auch hier ins Krankenhaus eingewiesen.«
»Sie ist im Sankt Theresa?« Cate erinnerte sich an ihre Besuche in der psychiatrischen Klinik, an die flachen grauen Gebäude und die umherwandernden Patienten. Es wollte ihr nicht in den Sinn, dass Alice dorthin gehörte. »Warum?«
»Zu ihrer eigenen Sicherheit. Die Gefahr bei dieser Art von Störung, falls sie tatsächlich daran leidet, liegt darin, dass dem Patienten jede Bedrohung seiner Macht unerträglich ist. So etwas macht ihn rasend. Diese Wut kann sich gegen ihn selbst richten. Alice verletzt sich selbst, die Beweise habe ich an ihren Handgelenken entdeckt. Außerdem ist sie im Lauf unseres Gesprächs zunehmend
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