Stirb mit mir: Roman (German Edition)
haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie vor Jahren bereits in psychiatrischer Behandlung waren?«
Sie spricht schnell, doch der vorwurfsvolle Unterton ist nicht zu überhören. Ich betupfe meine Lippen mit der Papierserviette und schiebe das Tablett zur Seite. »Diesen Fraß kann ich nicht essen.«
»Ich war gerade bei Doktor Gregg.« Cate sieht mich scharf an, verlangt eine Reaktion. »Von ihm habe ich erfahren, dass bei Ihnen eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, als Sie sechzehn Jahre alt waren. Sie haben mich belogen.«
»O nein, da irren Sie sich, Miss Austin. Damals war ich zu jung, um diagnostiziert zu werden. Im Übrigen habe ich Sie noch nie belogen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie wählen können. Und eine der Möglichkeiten war, mit mir zu reden. Ich dachte, wir wären ein Stück weitergekommen, und Sie fingen an, mir zu vertrauen.«
Ich schweige. Sie hat wirklich große Erwartungen.
»Zuerst habe ich nicht verstanden, warum Doktor Gregg Sie hat einweisen lassen, aber dann habe ich mit ihm gesprochen. Er ist der Meinung, dass Sie einen Rückfall hatten. Er hat von Narzissmus gesprochen.«
Sie hält inne, von der Diagnose offenbar nicht gänzlich überzeugt, aber ich wundere mich darüber nicht im Geringsten. Ich weiß, wie andere mich einschätzen.
»Für mich sieht die Sache folgendermaßen aus: Am Montag ging es Ihnen gut. Ihre Wohnung gestern war makellos. Nichts deutete auf die Frau hin, die Doktor Gregg hier eingewiesen hat. Mit Ausnahme des dunklen Lidschattens auf der Frisierkommode und des gelblichen Make-ups. Ach ja, und der zerbrochenen Vase auf dem Boden. Es war nicht die teure blauweiße, sondern eine billige gelbe. Nur die Blumen waren noch dieselben. Warum haben Sie die Vasen ausgetauscht, Alice? Weil Sie vorhatten, eine davon zu zerschmettern, aber Ihr kostbares Kunstwerk verschonen wollten? Und warum lagen Ihre Schminkutensilien noch herum? Wahrscheinlich weil Sie beim Auftragen des Make-ups in Eile waren. War der gute Herr Doktor zu dem Zeitpunkt schon fast an Ihrer Tür? Mir scheint, Sie haben ein kleines Theaterstück aufgeführt, damit Doktor Gregg an einen Rückfall glaubt. Oder liege ich da etwa falsch?«
»Ein Theaterstück?« Ich stehe auf und trete näher an sie heran.
Ich dachte, sie würde zurückweichen, aber das tut sie nicht. Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper.
»Haben Sie denn kein Vertrauen in seine Diagnose, Miss Austin? Um Doktor Gregg etwas vorzumachen, braucht man sicherlich mehr als eine zerbrochene Vase und ein bisschen Make-up.«
»Hören Sie auf, mich zu bevormunden, Alice. Ich will nur wissen, ob es Theater war.«
»Wie kann ich mich denn über meine geistige Gesundheit äußern, da Sie doch mit dem Experten gesprochen haben?«
»Ich glaube nicht, dass Sie geisteskrank sind«, entgegnet Cate Austin ruhig, wohingegen ich langsam zornig werde und nicht will, dass sie so dicht bei mir stehen bleibt. Endlich tritt sie einen Schritt zurück. »Aber ich bin hier nicht die Expertin.«
»Nein. Was Sie oder ich sagen, ist unwichtig. Wenn der Richter sein Urteil fällt, wird er sich nach Doktor Greggs Befund richten. Ich könnte nie ins Gefängnis gehen, bin gar nicht imstande, hinter Gittern zu leben. Dort würde ich eingehen wie eine Pflanze im Schatten. Ganz gleich, was geschieht, ich brauche meine Freiheit. Man kann alles von mir verlangen, dass ich Gräben aushebe, mit Krüppeln arbeite, egal was … Ich muss Doktor Gregg davon überzeugen, dass man mich nicht ins Gefängnis bringen darf.«
Als wäre sie es leid, mir zuzuhören, schüttelt Cate den Kopf.
»Sehen Sie mich an, Miss Austin. Ich trage schicke Kleidung, Goldstecker an den Ohren, perfektes Make-up. Wie kann ich verrückt sein, da ich doch so professionell und gebildet bin? Aber wenn ich nicht verrückt bin, muss mir offenbar etwas anderes fehlen, muss mir ein anderer Stempel aufgedrückt werden. Nur was soll aus mir werden, falls ich als ›böse‹ oder ›schlecht‹ abgestempelt werde? Man würde mich ins Gefängnis stecken, womöglich für Jahre, und das lasse ich nicht zu. In einer Klinik lassen sie mich wenigstens wieder frei, wenn sie mich für geheilt halten.«
Cate betrachtet mich abwägend.
»Mein Gefühlsausbruch am Dienstag war echt. Glauben Sie tatsächlich, Doktor Gregg lässt sich so leicht an der Nase herumführen? Wenn dem so wäre, sollte ich mich wahrscheinlich geschmeichelt fühlen.« Mein Zorn ist verraucht, ich schmecke nur noch bittere
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