Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Gesicht.
Krishna fühlt sich unbehaglich. »Von wo aus kann ich zusehen?«, fragt er den Wachmann.
Der streckt einen muskulösen Arm aus und deutet auf ein Schild mit einem Pfeil und der Aufschrift ›Zuschauergalerie‹. Der Pfeil zeigt auf eine breite Treppe. Krishna murmelt seinen Dank und bahnt sich einen Weg durch die Anwälte und ihre Angestellten, alle mit Akten unter dem Arm und einem Becher Automatenkaffee in der Hand. Dabei stößt er gegen eine Frau, und der Kaffee aus ihrem Becher schwappt über. Ein paar Spritzer landen auf ihrer Jacke.
»Oh, entschuldigen Sie vielmals«, sagt Krishna.
»Mist«, entgegnet die Frau. »Können Sie denn nicht aufpassen?« Sie hält den Kaffeebecher von sich weg und schaut an ihrer Jacke herunter, auf der dunkle, feuchte Flecken prangen.
Krishna kramt in seiner Hosentasche. »Hier.« Er reicht ihr ein sauberes Taschentuch und nimmt ihr den Kaffeebecher ab, damit sie die Flecken abtupfen kann.
»Mist«, wiederholt sie. »Das hat mir gerade noch gefehlt. In wenigen Minuten muss ich vor dem Richter erscheinen.«
Sie wirkt entnervt, und ihre Wangen haben sich gerötet. Ohne ein weiteres Wort gibt sie ihm das Taschentuch zurück und marschiert über den Flur davon. Krishna steht mit ihrem halbleeren Kaffeebecher da und blickt ihr nach.
Die Zuschauergalerie ragt wie ein großer Balkon in den Gerichtssaal hinein. Ehrwürdig sieht der Raum aus, mit Holzgeländer, Tischen und drei langen Bankreihen. Allerdings sind die Rückseiten der Bänke so gerade, dass sie offenkundig nicht der Bequemlichkeit dienen. Krishna ist der einzige Zuschauer. Er entspannt sich ein wenig und setzt sich auf einen Platz gleich hinter dem Geländer. Selbst aus der Höhe kann er nur einen Teil des Gerichtssaals überschauen. Mit zusammengebissenen Zähnen wagt er einen Blick nach unten. Zwar hatte er sich geschworen, nie wieder einen Gerichtssaal zu betreten, doch er ist neugierig und möchte hören, wie sein Kollege und Freund gestorben ist, denn darüber hat in dem Tagebuch nichts gestanden. Er möchte die Wahrheit erfahren.
Unten entdeckt er eine Gruppe von Menschen, die sich unterhalten, sieht deren Köpfe und den schwarzen Umhang eines Mannes mit einem Klemmbrett. Überrascht hört er jemanden lachen, was ihm angesichts des Falls respektlos scheint. Das Lachen kam von einer auffallend gutaussehenden Frau. Sie hat ihr blondes Haar in einem hohen Knoten festgesteckt und trägt ein schickes cremefarbenes Kostüm, mit dem sie sich von der dunklen Kleidung der anderen abhebt. Sie wirkt gepflegt und professionell, mit Perlenohrringen und einem Hauch rotem Lippenstift. Krishna ist sicher, dass sie eine wichtige Rolle innehat, womöglich sogar Anwältin ist. Solchen Frauen geht er gewöhnlich aus dem Weg, sie sind ihm zu selbstsicher, sich ihrer Schönheit zu sehr bewusst. Seine Begegnungen mit ihnen sind bisher immer schlecht ausgegangen.
Hinter Krishna kommt ein älteres Paar hereingeschlurft. Sie tragen beide die gleichen beigen Regenmäntel. Das Gesicht der Frau ist verkniffen und erinnert ihn an das seiner Mutter, wenn sie Migräne hat.
Der Mann stützt sie am Ellbogen, aber auch ihm scheint es nicht gut zu gehen. Auf seinem Gesicht finden sich blutverkrustete Kratzer von einer ungeschickt ausgeführten Rasur. Wenn die beiden zum Spaß eine Gerichtsverhandlung erleben wollten, denkt Krishna, wären sie besser zu Hause geblieben und hätten sich Mord im Orientexpress auf Video angesehen. Sie nehmen zu seiner Rechten Platz.
Als Nächstes drängt eine Gruppe herein und rutscht auf die Bank hinter Krishna. Es sind Menschen mit Laptops und Handys, die sie am Gürtel oder an einer Kordel um den Hals tragen. Reporter, die wegen der Show gekommen sind. Krishna entdeckt eine Person, die sich diskret in einer Ecke niedergelassen hat und trotz des strengen Haarschnitts und der schweren Lederjacke einen unauffälligen Eindruck macht. Sie hat etwas Militärisches an sich. Ihr Gesicht ist reglos, wirkt jedoch konzentriert, demnach scheint auch sie an dem Fall interessiert zu sein.
Dann erkennt Krishna unten im Saal den Kopf der Frau, deren Kaffee er verschüttet hat. Sie setzt sich an einen Tisch und ordnet ihre Unterlagen. Zwischendurch wirft sie der gutaussehenden Blondine einen Blick zu, die sie ihrerseits nicht aus den Augen lässt. Ob die beiden auf ein und derselben Seite stehen, lässt sich nicht feststellen. Ehe er noch mehr beobachten kann, ertönt ein lauter Summton. Der Gerichtsdiener ruft:
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