Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Matrose war siebzehn. Als sich seine Lippen vor Durst schwarz färbten, gab er auf und trank Meerwasser. Dehydriert, wie er war, musste er sich daraufhin übergeben. Er hatte sich als der Schwächste der vier erwiesen, und wie wir wissen, beuten die Starken die Schwachen aus. Anfangs schlug der Kapitän vor, Lose zu ziehen. Derjenige mit dem kürzesten Strohhalm sollte geopfert werden, damit die anderen überlebten. Ob es tatsächlich so war, wurde nie endgültig geklärt.
Am zwanzigsten Tag trat der Kapitän zu dem jungen Matrosen, der schwach und krank in einer Ecke des Schiffs lag. Der Junge wusste, was ihm bevorstand. »Warum ich?«, fragte er, schrie und wehrte sich. Ein anderer hielt ihn fest. Der Kapitän schlitzte ihm die Halsschlagader mit seinem Messer auf und fing das Blut in einem Behältnis auf. Der Junge blutete aus. Die anderen tranken sein Blut und aßen seine Organe.
Als sie gerettet wurden und wieder an Land waren, betonten die Männer, dass sie nichts Böses getan hatten. In ihren Augen hatten sie den Jungen einem höheren Zweck geopfert. Der Kapitän beklagte sich sogar, als man ihm sein Messer zur gerichtlichen Untersuchung wegnahm; er wollte es als Souvenir behalten.
An manchen Tagen fühle ich mich wie der Junge, an anderen wie der Kapitän. Ich bin das Opfer, der Leib, der geschlachtet werden soll, einer, der das kurze Los gezogen hat. Dann wieder denke ich, dass ich das Messer in der Hand halte und die Kontrolle habe, dass ich jemanden auswähle. Als ich Robin bat, von meinem Fleisch zu essen, hatte ich für sie ein höheres Schicksal im Sinn und für mich einen weiter reichenden Tod. Ich gebe mich auf, in dem Glauben, dass ich nach meinem Tod weiterlebe.
Der Junge auf dem Schiff hat sich nicht angeboten, doch sein Opfer wird dadurch nicht weniger nobel. Hat nicht auch Jesus an seiner Märtyrerrolle gezweifelt? Ist er nicht dreimal unter dem Gewicht des Kreuzes gestolpert? Aus diesem Grund muss ich das Schicksal, das ich für Robin bestimmt habe, vor ihr verbergen. Es dient nur zu ihrem Besten.
Ich habe noch etwas herausgefunden, das mich zudem tief beeindruckt hat. Bis zum Jahr 1950, ehe die Missionare ihnen den christlichen Glauben aufzwangen, gab es Eingeborenenstämme, die ihre Toten aßen. Es war Teil eines uralten Rituals. Irgendwann breitete sich unter ihnen jedoch eine Krankheit aus. Diejenigen, die einen Leichnam vorbereitet, von ihm gegessen und von seinem Blut getrunken hatten, zeigten allesamt die gleichen Symptome: Zuckungen, Gedächtnisschwund, geistige Verwirrung und aggressives Verhalten. Kurz gesagt: Sie hatten die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Dann kamen die Missionare und brachten ihnen eine andere Form des Kannibalismus bei, denn sie gaben ihnen Wein und Oblaten. Als ich das las, fragte ich mich, wie stark mein Gehirn schon beeinträchtigt war. Ich bin krank und trage befallene Prionen in mir, die falsche Botschaften aussenden. Die Frage ist, ob mein Gehirn dermaßen angegriffen ist, dass ich mir wünsche, meine Krankheit an Robin weiterzugeben, und sie deshalb von meinem Fleisch essen lassen will, ohne bei dem Gedanken zu schaudern. Wie schließt sich nun der Kreis, oder wie kann ich das als poetische Gerechtigkeit oder gar als Zeichen des Karmas betrachten, von dem du mir erzählt hast?
Ich stelle mir vor, bis zu ihrem Tod in ihr weiterzuleben. Warum empfinde ich diesen Gedanken als tröstlich? Ich habe Robin eine E-Mail geschickt. Darin habe ich ihr von einem fremden Ort erzählt, wo die Scheiterhaufen so hoch aufgerichtet werden, dass die Flammen bis zum Himmel lodern, der Rauch die Sonne erreicht und die herabsinkende Asche den Boden wie segnend berührt. Unterdessen tanzen rot bemalte Männer zu rhythmischen Trommelschlägen, die Frauen wiegen sich und singen mit erhobenen Armen.
Ich habe ihr beschrieben, wie sie in das weiche Fleisch des Bauches schneiden und die Organe entfernen und dass die Frauen singen, während sie die Organe klein schneiden, kochen und würzen, dass sie Weinblätter, Blüten und Körner in das Gericht geben. Diese Menschen trinken das Blut des Toten und essen sein Fleisch. Was übrig bleibt, bringen sie den Göttern in einem Feueropfer dar. Inzwischen gibt es diese Rituale nicht mehr, sie bestehen nur noch in Form meiner Träume.
Robin habe ich von der Liebe und der Hochachtung erzählt, die die Trauernden dem Toten entgegenbringen, auch davon, dass sich seine Stärke durch den Verzehr seines Leibes auf sie überträgt. Ich habe ihr
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