Stirb mit mir: Roman (German Edition)
achtundzwanzigJahren ein. Aber sie kann in jedem Alter ausbrechen. Hier noch eine Erkenntnis, die ich interessant finde: In einem Stamm in Papua-Neuguinea ist die Krankheit heute noch weit verbreitet.
Statistiken sind ein großer Trost, denn wir alle möchten zur Mehrheit gehören, das ist nur menschlich. Die Norm zu sein bedeutet, dass uns kein Unglück trifft. Denk an die zahllosen Passagiere auf Flugplätzen, die sich mit feuchten Händen und klopfenden Herzen vorrechnen, dass man eher beim Überqueren einer Straße als bei einem Flugzeugunglück sterben kann. Wir wollen nicht die Ausnahme sein oder sonst wie hervorstechen, denn wir glauben, unsere Normalität schütze uns wie ein Zauber. Dieser Glaube wird erst dann erschüttert, wenn etwas geschieht, beispielsweise der elfte September. Da erfassen wir mit einem Mal, dass diejenigen am Rand der Statistik, die unglückselige Minderheit, nicht anders sind als wir. Plötzlich öffnet sich uns eine Welt entsetzlicher Möglichkeiten, und wir haben Angst, die U-Bahn zu nehmen oder in einen Bus zu steigen.
Wusstest du, dass die Möglichkeit, von einer Terroristenbombe getötet zu werden, in Amerika bei 1 : 2 200 000 liegt? Demnach hast du größere Chancen, im Lotto zu gewinnen, und das ist ein echter Trost, denn jeder weiß, dass er nicht im Lotto gewinnt, so viel Glück kann man gar nicht haben. Wenn ich also eher im Lotto gewinne, als in die Luft gejagt zu werden, kann ich mich sicher fühlen. Das sagt mir allein die Logik.
Wie aber sieht es bei anderen tödlichen Unglücken aus?
Die Möglichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, liegt bei 1 : 600 000. Die Möglichkeit, bei einem Brand umzukommen, bei 1 : 70 900. Fühlst du dich immer noch sicher?
Wir beide kennen das oberste Gesetz eines jeden Statistikers: Die Menschen haben eine verzerrte Einstellung zu Risiken und erkennen den größeren Rahmen nicht. Unsere Wahrnehmung wird von Presseberichten beeinflusst, ebenso von Filmen, von unserer persönlichen Disposition und unseren Erwartungen. Beispielsweise haben wir Angst, vergewaltigt zu werden, so unwahrscheinlich das auch ist. Wenn wir nachts einen Laut hören, denken wir eher an einen Einbrecher als an eine Maus. Wir sind darauf programmiert, Schreckliches statt Gutes zu erwarten, obwohl das Gute wahrscheinlicher ist. Es ist eine Art Schutzpessimismus, mit dessen Hilfe wir uns vor schlimmen Dingen fürchten, in der Hoffnung, dass wir dann von ihnen verschont bleiben.
Ähnlich verhalten sich Menschen, die vom Glück gesegnet sind. Sie haben ständig Angst, dass ihr Glück vergeht, als gäbe es dafür nur ein bestimmtes Maß, das sie irgendwann erschöpft haben, weshalb ihnen als Nächstes eine Tragödie bevorsteht. Wir glauben an das Schicksal, ein Umstand, den alle Versicherungen ausnutzen. Von jeher habe ich die Anzeigen für Lebensversicherungen gehasst, auf denen eine trauernde Witwe mit Kind dargestellt wird, die sich daran erinnert, dass ihr verstorbener Ehemann die Versicherung für Geldverschwendung hielt. Die Botschaft lautet: Wenn du Angst hast, musst du eine Versicherung abschließen, denn wenn du es versäumst, wirst du es bereuen. Falls du nur auf dein Glück baust, sieh zu, dass dir keine schwarze Katze über den Weg läuft und dich niemand schief anguckt.
Aber auch ehe das Glück mich verließ, habe ich mich nie sicher gefühlt. Ich habe mich vor Feuer, Blitz und Zugunglücken gefürchtet, allesamt Katastrophen, die deutlich wahrscheinlicher waren als meine Krankheit. Trotz meiner Neurosen und Ticks habe ich nie gedacht, dass sich eine Krankheit in meinem Gehirn eingenistet haben könnte, vielleicht schon vor einem Jahrzehnt. Von der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit hatte ich zwar entfernt gehört, aber wie alle Menschen ging ich davon aus, dass sie nur andere befällt. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie man sie richtig schreibt. Die Möglichkeit, diese Krankheit zu bekommen, liegt bei 1 : 12 000 000. An dieser Quote gemessen, habe ich zumindest im Krankheitslotto gewonnen.
Natürlich habe ich daran gedacht, Robin von meiner Krankheit zu erzählen. Es würde alles um ein Vielfaches einfacher machen. Zwar scheint sie fest entschlossen, mir Sterbehilfe zu leisten, doch was wäre, wenn sie wüsste, dass ich mich ohnehin im Endstadium befinde?
Endstadium – das klingt wie Endstation und erinnert an einen Flughafen oder Bahnhof. Ein Ort, an dem die Reise beendet ist. Meine Krankheit ist meine Endstation. An
Weitere Kostenlose Bücher