Stirb schön
GRACE ERWACHTE AM SONNTAGMORGEN um halb sieben vom Piepsen des Weckers. Sein Mund war ausgedörrt, er hatte rasende Kopfschmerzen. Die zwei Paracetamol- Tabletten, die er gegen fünf Uhr mit einem halben Liter Wasser geschluckt hatte, zeigten ebenso wenig Wirkung wie die beiden, die er einige Stunden zuvor eingenommen hatte.
Als er auf die Schlummertaste drückte, um den Wecker vorübergehend zum Schweigen zu bringen, begann draußen ein Vogel wie eine hängen gebliebene CD unablässig zu zirpen. Zwischen den Vorhängen strömte Licht ins Zimmer.
Wie betrunken war ich eigentlich?
Er kramte in seiner Erinnerung, doch es fühlte sich an, als hätte man in seinem Hirn ein paar Drähte gekappt. Er griff nach dem Handy. Keine neue Nachricht von Cleo.
Na ja, immerhin war es erst halb sieben, und sie schlief vermutlich noch, doch das logische Denken fiel ihm augenblicklich schwer und wurde durch das Vogelzirpen und das Hämmern in seinem Kopf nicht gerade gefördert. Zudem hatte er einen arbeitsreichen Tag vor sich. Von wegen sonntags gemütlich ausschlafen.
Er schloss die Augen. Cleo war wirklich wundervoll, ein warmherziger Mensch, etwas ganz Besonderes – und sie hatten sich so unglaublich gut verstanden! Er erinnerte sich an den langen Kuss im Taxi. Dass sie den ersten Schritt gemacht hatte. Und wie.
Er sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen, sie wieder zu sehen. Auf einmal roch er ihr Parfum, nur eine Spur an seiner Hand, am Handgelenk war es stärker; er hatte ja den Arm um sie gelegt. Er drückte lange die Nase darauf und atmete den Moschushauch ein. Etwas rührte an sein Herz, das er schon längst vergessen geglaubt hatte.
Flüchtig dachte er schuldbewusst an Sandy, unterdrückte aber sein schlechtes Gewissen, weil er sich diesen Moment auf keinen Fall verderben wollte.
Er sah noch einmal auf die Uhr, wandte sich unwillig dem Thema Arbeit zu. Die Besprechung war für halb neun angesetzt. Und er musste noch seinen Wagen holen.
Wenn er jetzt aufstand, hätte er Zeit, zu der Tiefgarage zu laufen, in der er den Alfa abgestellt hatte. Vielleicht bekäme er an der frischen Luft einen klaren Kopf. Aber sein Körper verlangte nicht nach einem Dauerlauf, sondern nach acht weiteren Stunden Schlaf. Roy schloss erneut die Augen, wollte den Schmerz verdrängen, der sich wie ein glühender Draht in seinen Schädel bohrte. Den Scheißvogel hätte er am liebsten erschossen, er wollte doch nur ein paar köstliche Augenblicke lang die Erinnerung an Cleo Morey genießen.
Als der Wecker erneut piepste, war ihm, als seien nur Sekunden vergangen. Zögernd hievte er sich aus dem Bett, öffnete die Vorhänge und tappte barfuß ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Das Gesicht, das ihn aus dem Spiegel anschaute, war alles andere als schön.
Roy Grace war nie eitel gewesen, hatte sich bis vor kurzem aber für ziemlich jung gehalten. Nicht gerade attraktiv, aber ganz passabel, wobei seine blauen Augen, seine Paul-Newman-Augen, wie Sandy sie nannte, sein größter Vorteil waren. Was ihm missfiel, war die kleine schiefe Nase, die er sich einmal gebrochen hatte. Doch heute schien das Gesicht einem viel älteren Mann zu gehören, einem Fremden mit fahlem Teint, schlaffen Wangen und Tränensäcken groß wie Austernschalen.
Es lag nicht am Bier, den Kippen, dem Fastfood oder den verrückten Arbeitszeiten, sondern an der Schwerkraft. Das redete er sich jedenfalls ein. Die Schwerkraft ließ einen jeden Tag ein bisschen kleiner werden. Sie machte die Haut schlaff, indem sie sie unablässig nach unten zog. Man kämpfte ständig gegen die Schwerkraft, doch am Ende behielt sie die Oberhand. Nur aufgrund der Schwerkraft würde irgendwann der Deckel auf seinen Sarg fallen. Selbst wenn man seine Asche im Wind verstreuen ließ, holte die Schwerkraft jedes einzelne Partikelchen zurück auf den Boden.
Manchmal machte er sich Sorgen wegen dieser morbiden Gedanken. Womöglich hatte seine Schwester Recht; vielleicht war er zu viel allein. Doch die Einsamkeit kam ihm mittlerweile ganz normal vor.
Natürlich hatte er sich sein Leben anders vorgestellt, als er vor siebzehn Jahren an einem warmen Septembertag mit Sandy am Ende des Palace Pier stand und ihr einen Heiratsantrag machte. Er hatte gesagt, er sei mit ihr dorthin gegangen, damit er im Falle einer negativen Antwort direkt ins Wasser springen könne. Sie hatte ihm ihr wunderschönes, warmes Lächeln geschenkt, sich das blonde Haar aus dem Gesicht gestrichen und mit ihrem typischen Galgenhumor
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