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Stoerfall in Reaktor 1

Stoerfall in Reaktor 1

Titel: Stoerfall in Reaktor 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Hänel
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im AKW , denkt Lukas, und haben Angst, dass der Direktor sie erkennen könnte.
    Er versteht nicht, was der Bürgermeister zu den Eltern aus der Selbsthilfegruppe sagt, er sieht nur, wie seine Mutter etwas erwidert und der Bürgermeister sich dann kopfschüttelnd an die anderen Leute aus dem Dorf und die neugierigen Touristen wendet. Er hebt die Hand, bis ihm alle zuhören.
    »Liebe Leute, ich will Ihre und eure Geduld nicht unnötig strapazieren«, setzt er an, »schließlich ist Sonntag und das Mittagessen wartet auf uns alle. Deshalb nur so viel: Ich verstehe die Sorge der hier anwesenden Eltern nur zu gut, Sie wissen, dass ich ja selbst Vater eines mittlerweile fast erwachsenen Sohnes bin, und … äh … Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder, völlig zu Recht, das ist ihre Pflicht, denn wir haben die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder, und diese Verantwortung dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen, unsere Kinder sind unsere Zukunft! Umso furchtbarer trifft uns dann alle ein solcher Schicksalsschlag wie …« Er blickt kurz auf das Foto der kleinen Leonie zu seinen Füßen. »… wie jetzt heute im Fall der kleinen Leonie, die ich ja, wie die meisten Anwesenden hier auch, persönlich kenne, und ich kann an dieser Stelle nur mein tiefes Mitgefühl aussprechen und betonen, dass auch mich das nicht unberührt lässt, ganz im Gegenteil, glauben Sie mir! Aber bei aller Trauer und Betroffenheit sollten wir doch nicht plötzlich damit anfangen, uns zusätzlich auch noch von, salopp gesagt, irgendwelchen Panikparolen verunsichern zu lassen. Wer außer Angst – und ich wiederhole, diese Angst ist durchaus verständlich –, aber wer außer Angst keine weiteren Argumente hat, sollte sehr vorsichtig damit sein, gedankenlos irgendwelche Schuldzuweisungen auszusprechen. Vielmehr ist es unser aller Aufgabe, gerade jetzt das Wesentliche nicht aus den Augen zu verlieren. Wendburg ist eine prosperierende Gemeinde, und wenn es nach mir geht, soll das auch so bleiben. Deshalb habt ihr mich zum Bürgermeister gewählt, und ich stehe mit meinem Namen dazu, für eine gute Zukunft für uns alle zu sorgen. Die Entscheidung, aus der Atomkraft auszusteigen, ist ohnehin schon einem – nennen wir es ruhig beim Wort –, einem grünen Aktionismus geschuldet, den ich beim besten Willen nicht nachzuvollziehen vermag. Aber spätestens, wenn wir jedem von euch hier ein paar Tag und Nacht knatternde Windräder vor die Haustür gestellt haben, wird sich so mancher wünschen, dass dieser Schritt sorgfältiger überlegt worden wäre, da bin ich mir sicher. Nein, nein«, wehrt er einen Zwischenruf des Redakteurs ab, »ich versuche nicht, hier etwas zu beschönigen oder unter den Teppich zu kehren, und selbstverständlich werden wir nochmals alle möglichen Zusammenhänge zwischen unserem Kernkraftwerk und der … fürchterlichen Krankheit, die die kleine Leonie aus unserer Mitte gerissen hat … äh … genauestens untersuchen …«
    Lukas’ Mutter springt auf, ihr Gesicht ist kreidebleich, ihre Stimme überschlägt sich fast. »Wir haben hier in Wendburg dreimal so viele an Leukämie erkrankte Kinder und doppelt so viele Krebskranke wie in anderen Regionen …«
    »Bitte, ja, ich kenne die Statistik, und genau deshalb werden wir auch nochmals … Aber ich sage auch, es ist wirklich niemandem damit geholfen, wenn jetzt hier Panik gemacht wird!« Er wendet sich wieder an die anderen Leute aus dem Dorf. »Wir untersuchen das, darauf habt ihr mein Wort, und bei dem geringsten Verdacht irgendeines Zusammenhangs werden wir unverzüglich die notwendigen Konsequenzen ergreifen, auch darauf habt ihr mein Wort! Aber ich bin mir fast sicher, dass das Ergebnis einer neuen Untersuchung nur das bestätigen wird, was wir ohnehin schon wissen. Und für weitere Details in diesem Feld gebe ich das Wort an den Direktor des Werkes, Herrn Dr. Schröder, der das in wenigen Sätzen zusammenfassen kann, was ich als ausgemachter Laie auf technischem Gebiet leider nur unzureichend formulieren kann … äh … Die, die mich schon länger kennen, wissen ja auch, dass ich in der Schule nicht gerade als Streber galt …«
    Wenn er jetzt auf ein paar Lacher gehofft hat, hat er sich gehörig getäuscht, denkt Lukas. Niemand lacht. Eher scheint es so, als würden die meisten Leute die Ansprache als genau das sehen, was sie war: peinlich. Hohles Gerede wie bei einer Wahlkampfveranstaltung. Allerdings hat offensichtlich auch keiner den Mut, den Mund

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