Stoerfall in Reaktor 1
aufzumachen und genau das zu sagen.
Der Direktor räuspert sich und rückt wieder seine Krawatte zurecht, bevor er das Wort ergreift. »Nun, ich kann Ihnen zumindest versichern, dass ich in der Schule immer unter den Klassenbesten war, vor allem in meinem Lieblingsfach Physik. Aber es geht hier ja nicht um unsere Leistungen in der Schule, Sie haben ein Anliegen, das einer Klärung bedarf. Nach genauester Betrachtung aller bisher durchgeführten Untersuchungen muss festgehalten werden: Es gibt keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Leukämie-Erkrankungen und dem hier ortsansässigen Kernkraftwerk. Die Ursachen für Leukämie sind weitgehend unbekannt, man weiß nicht, warum bei manchen Menschen genetische Veränderungen im Erbgut von Zellen vorkommen und warum es wiederum bei einigen zu einer bösartigen Veränderung und damit zu einer Erkrankung kommt, und bei anderen nicht. Vermutlich müssen ohnehin verschiedene Faktoren zusammenwirken, um die Krankheit ausbrechen zu lassen. Jeder Mediziner wird Ihnen das bestätigen. Auf alle Fälle kann ich Ihnen versichern, dass wir alle möglichen Risikofaktoren, die durch ein Kernkraftwerk entstehen könnten, mit aller Sicherheit ausgeschlossen haben. Die Sicherheit für die Bevölkerung steht für uns an erster Stelle bei jeder Entscheidung, und wir haben in allen Bereichen, in denen ein Austritt an Radioaktivität überhaupt möglich sein könnte, entsprechende Filteranlagen installiert, die eine radioaktive Belastung auf ein Minimum reduzieren, das weit unter den gesetzlich vorgeschriebenen Werten liegt.«
»Moment!«, mischt sich jetzt der Redakteur ein. »Sie haben doch gerade gesagt, dass sehr wohl radioaktive Teilchen …«
»Ich habe gesagt, dass wir nie die Grenzwerte für erlaubte Radioaktivitätsabgaben von 925 Millionen Becquerel pro Jahr für radioaktives Material überschritten haben. Und es gab definitiv keine kerntechnischen Unfälle mit erhöhter Radioaktivitätsfreisetzung.«
Dr. Schröder dreht sich zum Bürgermeister und wechselt ein paar halblaute Sätze mit ihm, der Bürgermeister übernimmt in das entstandene Gemurmel hinein das Schlusswort: »Liebe Freunde, ich würde mal sagen, das war’s. Ich danke, wir danken Herrn Dr. Schröder für seine fachkundigen Ausführungen und für die Zeit, die er uns geopfert hat. Herr Dr. Schröder hat eben vorgeschlagen, nächstes Wochenende einen Tag der offenen Tür im Kernkraftwerk zu veranstalten, ich denke, das ist eine gute Möglichkeit für uns alle, um sich vor Ort zu informieren und sich von … äh … sachlichen Argumenten überzeugen zu lassen. Wir sagen nicht einfach nur, Kernkraft ist sicher – Kernkraft ist tatsächlich sicher, unser Werk ist sicher, Wendburg ist sicher! Wir sind hier nicht in Japan und es gibt keinen Anlass zur Beunruhigung. Wir sehen uns also alle am nächsten Wochenende wieder hier und ich hoffe sehr auf Ihr und euer zahlreiches Erscheinen! Ein letztes Wort noch«, setzt er mit erhobener Stimme hinzu, als verschiedene Zwischenrufe ertönen. »Dr. Schröder wird im Übrigen mit der Konzernleitung ein Gespräch führen, um für eine angemessene Spende für die Kinder-Krebsstation im Hildesheimer Krankenhaus zu plädieren, und ich verspreche sicher nicht zu viel, wenn ich sage, dass wir vielleicht schon am Tag der offenen Tür Zeuge sein dürfen, wenn er einen entsprechenden Scheck an die … äh … Selbsthilfegruppe der betroffenen Eltern hier überreichen wird! Ich denke, das ist einen Applaus wert, meine Damen und Herren!«
Einen Moment herrscht verblüfftes Schweigen, dann fängt jemand an zu klatschen, ein paar andere fallen ein. Dr. Schröder nickt und hebt in einer abwehrenden Geste die Hände, als der Bürgermeister ruft: »Und bitte, ja, das ist kein Eingeständnis irgendeiner Schuld, sondern einzig und allein eine Geste, die deutlich machen soll, das auch ein überregionaler Energiekonzern wie der Betreiber unseres Werkes durchaus menschlich reagieren kann und sich im Übrigen der Verantwortung, die er für die Zukunft einer Gesellschaft hat, vollauf bewusst ist!«
»Das klingt ja wie eine Bedrohung!«, sagt der junge Redakteur laut, wird aber von dem jetzt allgemeinen Beifall übertönt, ebenso wie die Frau, die plötzlich aus der ersten Reihe tritt und auf Dr. Schröder und den Bürgermeister zugeht. Lukas hätte sie fast nicht erkannt, erst als Karlotta ihr aufgeregt zuwinkt, sieht er, dass es die Ärztin ist, die Karlotta zur weiteren Behandlung an das
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