Stoerfall in Reaktor 1
deutlich gewachsen, fast alles Leute aus dem Ort, ein paar Frauen wischen sich über die Augen, und die alte Frau Plaschetzki, »die Hexe«, verteilt Kaffee aus einer Thermoskanne an die Mitglieder der Selbsthilfegruppe.
Irgendjemand ruft laut: »Gut so! Irgendwas muss ja mal passieren!«
»Aber was soll das?«, mischt sich jemand anderes ein. »Das bringt doch alles nichts! Das ist doch genauso wie diese Aktion vorgestern Nacht, das macht nur alle verrückt, aber ändern wird sich sowieso nichts!«
Innerhalb von Minuten entsteht eine hitzige Diskussion, Karlotta hört mit offenem Mund zu und rutscht in ihrem Rollstuhl aufgeregt hin und her. Lukas wirft einen Blick zu Jannik hinüber, der unbeteiligt am Rand der Menschengruppe steht. Ganz kurz erwidert er Lukas’ Blick, dann dreht er sich abrupt um, als hätte er endgültig genug gesehen, und fährt auf seinem Fahrrad davon.
Gleichzeitig biegt von der Landstraße her ein schwarzer Phaeton in die Zufahrt ein, Lukas sieht, wie Jannik stutzt und irritiert wieder anhält. Auch er erkennt offensichtlich den Wagen wieder – der gleiche Phaeton hatte neulich nachts in der Seitenstraße neben dem Rathaus geparkt, aber weder Jannik noch er hatten irgendeinen Rückschluss daraus gezogen, auch später nicht, als sie von Alex erfahren haben, dass der Bürgermeister zur gleichen Zeit in seinem Büro gewesen ist. Aber jetzt ist die Sache klar: Das ist der Direktor des AKW s, sie alle haben seine Luxuskarre schon oft genug im Ort gesehen, wenn der Fahrer beim Bäcker frische Brötchen geholt hat oder bei irgendwelchen anderen Gelegenheiten. Und wenn der Phaeton nachts vorm Rathaus stand, dann war also mit Sicherheit auch der Direktor bei dem heimlichen Treffen im Büro des Bürgermeisters dabei! Womöglich hat sein Fahrer sogar im Auto gewartet und Jannik und ihn gesehen! Nein, versucht Lukas, sich selber zu beruhigen. Das Einzige, was er gesehen haben kann, waren zwei Typen auf einem Moped mit schwarzen Kapuzen über dem Kopf und schwarzen Schals vor dem Gesicht. Unmöglich, dass er sie wiedererkennen könnte. Dennoch ist er fast beruhigt, als er sieht, dass diesmal der Direktor selbst gefahren ist und niemand sonst im Auto sitzt.
Noch während der Direktor aus seinem Wagen steigt – wobei er es schafft, gleichzeitig auf seine Uhr zu blicken und sich dabei die Krawatte zurechtzurücken –, parkt hinter ihm ein verbeulter Peugeot mit einem PRESSE -Schild an der Windschutzscheibe. Die Zeitung ist also auch da. Ein junger, blonder Redakteur, in Jeans und Metallica-T-Shirt, und ein Fotograf mit Lederjacke und verspiegelter Sonnenbrille, dem deutlich anzusehen ist, dass er sich seinen freien Sonntag anders vorgestellt hat, steigen aus dem Wagen. Betont gelangweilt schlurft der Fotograf mit seiner Kamera hinter dem Redakteur her und zündet sich dann abwartend eine Zigarette an, als sein Kollege den AKW -Direktor um eine Stellungnahme bittet. Erst als ein weiteres Auto vorfährt und der Bürgermeister aussteigt, wird der Fotograf ein bisschen lebendiger. Er schnippt seine Zigarette auf den Boden und begrüßt den Bürgermeister per Handschlag, dann auch den Direktor. Die beiden scheinen sich schon länger zu kennen, der Redakteur ist jetzt eindeutig abgemeldet und versucht vergeblich, noch eine Frage loszuwerden. Der Fotograf arrangiert den Bürgermeister und Direktor so, dass er ein paar Fotos schießen kann, ohne dass das anklagende Spruchband mit im Bild ist. Als er dann noch ein Kind dazuholt, das dem Direktor die Hand schütteln darf, während der Bürgermeister sich scheinbar interessiert zu ihm hinunterbeugt, glaubt Lukas es langsam nicht mehr. Die ziehen hier irgendeine Show ab, denkt er. Was soll das denn? Die tun glatt so, als ob es hier nur um sie geht!
Zu allem Überfluss drängen sich jetzt auch noch ein paar der umstehenden Leute ins Bild, um am nächsten Tag vielleicht in der Zeitung zu sein …
»He!« Karlotta zieht Lukas am Arm. »Machen sie gleich auch noch ein Bild von Mama?«
»Keine Ahnung. Doch, bestimmt, pass auf!«
Der Bürgermeister nickt jovial in die Runde, dann schiebt er sich händeschüttelnd durch die Leute bis zu der kleinen Demonstrantengruppe. Der Direktor bleibt dicht hinter ihm, als wolle er unter allen Umständen vermeiden, dass er den Anschluss verliert und plötzlich alleine dasteht. Lukas beobachtet, wie sich zwei oder drei Männer aus dem Dorf schnell wegdrehen, als der Direktor in ihre Nähe kommt. Sie arbeiten unter Garantie auch
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