Stoff für viele Leichen
Nur neidische oder übelwollende Menschen
hingen ihm raffiniert dies oder das an. Er bestritt, der Gestapo angehört zu
haben. Der Beweis: seine Deportation. Ab und zu nahm der Text Bezug auf ein
Foto, das aber nicht abgebildet war. Das waren die bewußten Fotos, die Covets
Anhang Roger auf der Terrasse oder in der Bar hätte machen sollen. Die
Sonderausgabe sollte schnell raus, und so hatte man den Text nicht mehr
korrigieren können. Immerhin war ein Archivfoto von dem Gangster drin. Genauso
hatte mir Florimond Faroux den Kerl beschrieben: weiße Haare, Hornbrille, das
rechte Ohrläppchen angewachsen. Sah mehr nach einem Geschäftsmann aus als nach
einem Gangster.
Ich hatte ihn
noch nie im Leben gesehen. Aber trotzdem kreuzten sich häufig unsere Wege. Er
war der Organisator der blutigen Falle in der Rue Montorgueil; er hatte
Marcellin von der Terrasse in der siebten Etage werfen lassen; und er stand
auch hinter dem Schützenfest in der Rue Saint-Denis, bei der ich unfreiwilliger
Zeuge gewesen und festgenommen worden war. Irgendetwas nicht Faßbares, winzig
und nebulös, schoß mir durch den Kopf. So winzig, daß es sich ins Nichts
auflöste, bevor ich diesen flüchtigen Gedanken festhalten konnte. Ich zeigte
Hélène Péronnets Gesicht.
„Ist das einer
der Männer?“
„Nein“, sagte
sie entschieden.
„War er bei
denen, die aus dem Pressehaus rannten?“
„Hab ihn
nicht gesehen. Aber da er der Boß ist, wird er von seinen Leuten bestimmt
eingerahmt.“
„Sicher.
Lesen Sie Covets Artikel, und sagen Sie mir dann, was Sie davon halten..."
„Na ja,“
sagte sie, als sie fertig war, „immer noch so unverschämt und findig, wie wir
ihn kennen...“
„Findig!“
lachte ich. „So wie Marcellin. Der hat Péronnet wohl kaum alleine aufgespürt.
Der Gangsterboß hat bestimmt Annäherungsversuche gemacht. Denn ihm ist der
Artikel willkommen. Der ist nämlich tatsächlich schlau. Seine scheinbar
nichtssagenden Äußerungen können nur die Flics verstehen. Und die sind noch
viel findiger und werden sich sofort auf die falschen Fährten stürzen... Na ja,
uns kann’s egal sein. Aber mir ist völlig klar, daß dieser Journalisten-Coup
Faroux ganz und gar nicht gefallen wird. Und daß er sich für Covets Freunde
interessieren wird. Vor allem für einen. Hauen wir mal schnell ab, Hélène,
bevor die Polente auftaucht.“
Wir gingen
weit weg in ein Restaurant. Beim Essen las ich den Artikel über Marcellins Tod.
Zeugenaussagen zufolge hatte sich der unglückliche junge Mann aus irgendeinem
Grund aufs Geländer gestellt und war abgerutscht.
Ein Zeitungsverkäufer
kam ins Restaurant und bot die sensationelle Sonderausgabe des Crépu an.
„Hab ich
schon gelesen“, sagte ich zu ihm.
„Nicht die
hier. Ist soeben rausgekommen.“
Das Interview
mit Péronnet stand immer noch auf Seite 1. Aber jetzt fiel mein Blick auf einen
ziemlich großen „Kasten“. Marc Covet war zum Quai des Orfèvres gebracht worden,
um sich zu den zwielichtigen Gestalten zu äußern, von denen die Kellnerin
gesprochen hatte. Bis zur ersten Sonderausgabe hatte er ein bewundernswertes
Berufsethos an den Tag gelegt und der Fragerei widerstanden. Jetzt wurde er
aber gar nicht mehr gefragt. Kommissar Faroux hatte den Fall energisch in die
Hand genommen. Wütend hatte er Marc Covet wegen Begünstigung einsperren lassen.
* * *
„Dicke Luft“,
sagte ich zu Hélène, als wir das Restaurant verließen.
„Vielleicht
sollten Sie jetzt auch mal was tun?“ legte sie mir nahe.
„Nicht wahr?
Nestor muß schließlich seinen Senf dazugeben. Wenn auch nur, um seine Ehre zu
retten..."
„Eben“,
lächelte sie. „Wenn auch nur, um die verunglückten Spielereien mit dem Namen
William Irish wiedergutzumachen.“
Wütend kaute
ich auf meiner Pfeife herum.
„Ach ja? So
ist das also, hm? Machen Sie sich ruhig über mich lustig! Na gut... Herrgott
nochmal! Schließlich wollte Marcellin sich seine Blumen nicht ins Knopfloch
stecken... Wie spät? Neun? Gehen wir zu Clo. Sie kommen mit. Erstens, weil ich
Sie bezahle. Zweitens, um die Augen offenzuhalten, wegen der Flics, und
schließlich, weil Sie die arme Kleine besser als ich trösten können. Die weint
sich bestimmt die Augen aus dem Kopf.“
In der Rue
Sainte-Foy war die Luft rein. Wie vorauszusehen, jammerte Clo in ihrem Zimmer.
Die alte Tante dagegen schien der Meinung zu sein, daß dieser Verrückte, dieser
Gauner, es nicht besser verdient hatte. Was sie natürlich nicht laut
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