Stoff für viele Leichen
Marcellin entpuppt sich bei
Malet zwar trotz einiger charakterlicher Unregelmäßigkeiten nicht als
Zechpreller (Patron Gabriel: „Er schuldet mir nicht einen Sou“), aber andere
Hausgäste müssen wohl mit der Begleichung ihrer Rechnungen in Verzug geraten
sein. Jedenfalls hat das Hotel offensichtlich Pleite gemacht. An der von Malet
beschriebenen Stelle steht es jedenfalls nicht. Malet plaziert es „genau
gegenüber einer Devotionalienhandlung“, die sich offenbar als krisenfester und
langlebiger erweisen als Beherbergungsstätten. Jedenfalls hat die in leuchtendem
Himmelblau gehaltene Devotionalienhandlung noch immer ihre Pforten geöffnet.
Die äußerlich
eher unscheinbare Kirche Notre-Dame des Victoires steckt voller Anekdoten.
Ihren stolzen Namen verdankt sie zunächst einmal der Einnahme der
widerspenstigen Stadt La Rochelle, einer Hochburg der Protestanten durch
königliche Truppen. Militärische Tradition hat dann wohl auch dazu geführt, daß
im Laufe der Jahre an den Seitenpfeilern Schaukästen angebracht wurden, in
denen sich eine Vielzahl von Orden aneinanderreiht. Zahlenmäßig umfangreicher
noch gestaltet sich die Ansammlung von mehr als 30 000 Votiv-Tafeln, die die
weithin unbekannte Kirche zu einem Wallfahrtsort gemacht haben, der
diesbezüglich sogar Lourdes in den Schatten stellt.
Die
skurrilste und wohl auch amüsanteste Episode ihrer bewegten Geschichte verdankt
das Gotteshaus aber einem Ondit, auf das ich durch die Schilderung des
deutschen Diplomaten Jörg von Uthmann aufmerksam wurde, dessen launig
geschriebener Paris-Führer zum Interessantesten zählt, was in jüngster Zeit in
deutscher Sprache über die abseitig-kuriose Seite von Paris erschienen ist.
Dieses von
der seriösen Geschichtsschreibung zu Unrecht vernachlässigte Ereignis hat sich
wie folgt zugetragen: Es war einmal ein Augustinermönch, der zu jener Zeit dort
seinen Dienst verrichtete. An einem naßkalten Novemberabend des Jahres 1638
erschien ihm plötzlich — so schilderte er es jedenfalls wenig später der
erstaunten Umwelt — die Jungfrau Maria mit einem Kind im Arm. Damit keine
Mißverständnisse aufkämen, belehrte sie ihn sogleich, das Knäblein sei nicht
etwa das Jesuskind, wie er auf Grund seiner frommen Erziehung und in voller
Kenntnis der biblischen Geschichte vorschnell schließen könnte. Es handele sich
vielmehr um ein politisch höchst bedeutsames Kleinkind, nämlich den künftigen
Thronfolger des französischen Hofes. Da nun der Mönch zu einem Orden gefunden
hatte, dem nicht das Gebot des Schweigens vor allen anderen Pflichten auferlegt
war, erzählte er sein Erlebnis auch gleich weiter.
Nun war der
Winter des Jahres 1638 ein ganz grausliger Winter voller Tiefdruckgebiete. Und
die Hofchronisten haben später herausgefunden, daß nur eine Woche nach der
wundersamen Begegnung, die dem Mönch da widerfahren war, ein schwerer
Schneesturm Paris heimsuchte. Der König, es war noch immer Ludwig XIII.,
entschloß sich also auf Grund des überaus schlechten Straßenzustandsberichtes,
auf die Rückkehr ins Schloß von Versailles zu verzichten und für dieses eine
Mal und entgegen seinen sonstigen intimen Gepflogenheiten bei seiner
angetrauten Gattin, der Königin Anna, in Paris zu nächtigen.
Dies muß dann
wohl — Hofchronisten sind findige Leute und kluge Rechner dazu — die im
folgenden Jahr anstehende Geburt eines Sohnes nach sich gezogen haben. Eben
jenes Ludwig XIV., der dann als Sonnenkönig in die Annalen einging.
Und auf
einmal war jener Augustinermönch mit der schillernden Phantasie aus der Kirche
Notre Dame des Victoires wieder in aller Munde. Er wurde so berühmt, daß er
später in der Kirche beigesetzt wurde und die Pferdedroschken, die vor dem
Gotteshaus damals ihren Stellplatz hatten, ihm zu Ehren seinen Namen erhielten.
Den Namen des kleinen Augustinermönchs: Fiaker.
Mitte der
60er Jahre unseres Jahrhunderts aber hingen die Kutscher den Pferdehalfter an
die Wand und gaben ihr Gewerbe auf. Dabei zählen Pferderennen zu den
gesellschaftlichen Höhepunkten in dieser Stadt, Pferdewetten sind mit die
größte Leidenschaft der Franzosen und werden in den täglichen
Nachmittagsnachrichten im Rundfunk jedem politischen Ereignis — gleich welcher
Bedeutsamkeit — stets vorgeordnet.
Der
Droschkendienst jedoch war auf den Hund gekommen. Nur einmal noch, Anfang der
80er Jahre, war ein zaghafter Versuch gestartet worden, das nostalgische
Unternehmen neu zu beleben. Aber die von Lärm und
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