Stoff für viele Leichen
Autoabgasen geplagten Tiere
trabten nur einen Sommer eine festgelegte Route am Garten der Tuilerien und am
Palais Royal entlang zur Place Vendôme. Heute laufen die Pferde nur noch
draußen im Bois de Boulogne.
„Daß eine
Hure wie Marion in einem so alten, heruntergekommenen Haus wohnte“, wundert
sich Burma, „war nur durch die allgemeine Wohnungsnot zu erklären.“ Nun, um die
Wohnungsnot in Paris steht es seit Nestors besten Tagen nicht viel anders. Und
noch immer säumen die Rue Montorgueil alte, heruntergekommene Häuser. Dieser
östliche Teil des zweiten Arrondissements steht im Sanierungsplan der Stadt
Paris wohl auf den hinteren Seiten. Wenigstens die geschäftige Betriebsamkeit
ist der Straße somit nicht abhanden gekommen. Auch am Sonntagmorgen ist hier
Markt und es ist das Paradies der Tante-Emma-Läden, das hier zu Hause ist. Da
hängen noch die Schinken und die Hartwürste aus der Auvergne am Eingang der
Metzgerei, die schon der Großvater geführt hat, und gleich nebenan wird der
Käse aus dem Cantal noch vom Stück geschnitten. Da und nicht in einem
Supermarkt hat sich wohl Marion versorgt. Aber in welchem der durchweg ein
wenig schäbigen Häuser mag sie gewohnt haben? Zuweilen ist im verwitterten
Mauerwerk noch der verblassende Name eines Restaurants zu lesen, in dem heute
ein zugewanderter Tunesier bedächtig fettriefendes Hackfleisch vom Rundgrill
schabt, um es mit Zwiebelringen, Tomatenscheiben und einem Klecks Harissa für
umgerechnet fünf Mark zu einem Sandwich zusammenzumischen. In einer
Seitenstraße, der Rue Bachaumont, findet man im „Aux Crus de Bourgogne“ auch
heute noch einen Winkel unverfälschter Provinz. Keine Haute Cuisine, aber auch
kein modischer Schnickschnack, wie er im Hallenviertel immer häufiger
anzutreffen ist. Auf rotkarierten Tischdecken wird den Gästen — und es sind fast alle Stammgäste —
gute regionale Küche serviert, wie sie in Paris leider immer seltener wird.
Noch uriger
geht es aber im Grand Cerf zu, in der gleichnamigen Passage, zwischen der Rue
St. Denis und der Rue Dus-soubs. Es ist eines der preiswertesten Lokale
überhaupt in Paris, wo man sich für kaum mehr als 10 Mark rundum sattessen
kann, ein viertel Rotwein inklusive. Ein alter Geheimtip für Leute mit ganz
dünnen Brieftaschen.
Es wäre
sicher die rechte Adresse für den italienischen Komödienschreiber Carlo Goldoni
gewesen, der seine Heimat, erbost über fortgesetzte Kritik an seinem Schaffen,
verlassen hatte und die letzten 30 Jahre seines Lebens in Paris verbrachte, wo
er sich in der Rue Dussoubs eine Wohnung genommen hatte. Obwohl er eine
Anstellung an der Comédie Française fand und dann auch Lehrer für Italienisch
am königlichen Hofe war, starb er schließlich, völlig verarmt und ohne auch nur
die Spur seiner Grabstätte zu hinterlassen, 1793, wenige Jahre also nach
Ausbruch der Revolution.
Auf der
anderen Seite der Passage also die Rue St. Denis, das heißeste Pflaster von
Paris. Besonders auf der Höhe der Rue Blondel, an deren Ecke Burma sich zu
einem bewegten Vorspiel einfindet. Schätzungen zu Folge haben sich dort vier
Fünftel aller Pariser Prostituierten niedergelassen und Shirley McLaine, die
unvergeßliche Irma la Douce aus dem Film von Billy Wilder soll dort vor Beginn
der Dreharbeiten etliche Tage Anschauungsunterricht genommen haben. Nicht erst
der heutige Bezirksbürgermeister, ein Mann der konservativen Opposition, hat
sich angeschickt, dem von vielen Anwohnern so angesehenen Unwesen ein Ende zu
bereiten, in dem er kurzerhand deren Anwesen einfach zumauern ließ. Was ihm in
Anlehnung an den derzeit populären Anti-Rassismus-Slogan touche pas à mon
pote! (rühr meinen Kumpel nicht an!) den spöttischen Protest eintrug touche
pas à ma pute! (rühr meine Hure nicht an!).
Der
Behördenärger mit den leichten Damen reicht bis ins Mittelalter zurück. Im 14.
Jahrhundert bereits nahm der Pariser Domprobst Aubriot Anstoß an der
freizügigen Kleiderordnung, die sich dem frommen Blick dort feilbot. Voller
Entrüstung erließ der Kirchenherr eine Verfügung, nach der es verboten sei,
„güldene Gürtel, gewendete Kragen und Kleider mit gefiedertem Waldvogelschmuck“
zu tragen. Derlei aufwendige Accessoires haben die Damen heute abgelegt. Und
einiges mehr. Daß das sündige Viertel offenbar zu allen Zeiten eine sehr
weitgefächerte Klientel anlockte, belegt die Anekdote, nach der in der Rue du
Ponceau (dort liegt das Bistro, in dem sich Marion von Burma anrufen
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