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Stoff für viele Leichen

Stoff für viele Leichen

Titel: Stoff für viele Leichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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nichts.
     
     
    Paris 1955

Nachgang
     
    Im
vergangenen Jahr, sagt Madame beim Gläserabwaschen hinter der Theke, im
vergangenen Jahr, war ER sogar da. Und dabei wies sie mit der Kinnspitze auf
eines der Schwarzweiß-Fotos im gläsernen Schaukasten, dem blankgeputzten Tresen
gegenüber. Er hat mir sogar die Hand gegeben, freut sie sich noch immer und
fügt dann hinzu: „Obwohl ich doch erst ein Jahr hier bin“ — als sei ein
Händedruck unter solchen Umständen eine besondere Auszeichnung.
    ER: Das ist
Staatspräsident François Mitterrand — und HIER: Das ist das Café du
Croissant an der Ecke Rue Montmartre und Rue du Croissant.

    Französischer
läßt sich der Name eines Cafés gar nicht denken. Aber nicht die
knusprig-frischen Hörnchen, die den sonst so kargen französischen
Frühstückstisch erträglich machen, haben dem Café seinen Namen gegeben. Denn
Croissant heißt auch Halbmond, und der Halbmond schmückt einen Hauseingang in
dieser Straße, die schon seit über 350 Jahren nach diesem Symbol benannt ist.
Das Café selbst wäre kaum der Rede wert, hätte dort nicht an einem heißen
Julitag 1914 der Sozialistenführer Jean Jaurès mit einigen Kollegen der von ihm
gegründeten Zeitung Humanité zusammengesessen. Der überzeugte Pazifist
Jaurès hatte den unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des Ersten Weltkrieges
nach dem Thronfolgermord von Sarajewo vorausgeahnt. Er wußte, daß seine
wiederholten Aufrufe zu einer Aussöhnung, zumindest einer friedlichen Einigung
mit dem verhaßten deutschen Nachbarn auf taube Ohren stießen.
    Es wurden
hitzige Debatten geführt an diesem Abend. Jaurès entschloß sich, von seinen
Freunden bedrängt, zum Abendessen zu bleiben. Kurz vor 22 Uhr trat ein Mann ans
offene Fenster und gab zwei Pistolenschüsse auf Jaurès ab. Einer durchschlug
seinen Schädel und blieb in dem Holzbalken hinter dem Tisch stecken. Jaurès
überlebte den Anschlag nur wenige Minuten.

    Der Täter
wurde gefaßt. Es war der 29jährige Raoul Villain. Ein hitziger Wirrkopf, der
später in der Vernehmung angab, er habe eigentlich ein Attentat auf den
deutschen Kaiser geplant, dies aber kurzfristig wieder verworfen, um sich dann
auf Jaurès zu besinnen.
    Über der
Heizung des Cafés, ein wenig versteckt von einem Spielautomaten, hängt heute eine
Glasvitrine mit Erinnerungen an diesen Anschlag. Ein Stück morsches Holz, das
die tödliche Kugel birgt, und zahlreiche Zeitungs-Ausschnitte, darunter die
Ausgabe der Humanité vom 1. August mit der Balken-Überschrift Jaurès
ermordet’. Auf Jaurès berufen sich noch heute die Sozialisten, aber auch die
Kommunisten, deren Parteizeitung inzwischen die Humanité ist. Jaurès
wurde ins Panthéon überführt; an seiner Grabstätte legte Mitterrand im Mai 81
bei der pompös angelegten Amtseinführung eine rote Rose nieder.

    Dem
Attentäter Raoul Villain wurde erst nach Kriegsende im Jahre 1919 der Prozess
gemacht, der mit einem spektakulären Freispruch endete. Seine Spur verlor sich
dann, bis bekannt wurde, daß er im spanischen Bürgerkrieg gefallen war. Es
wurde nie geklärt, ob Villain ein Einzelgänger war oder ob er im Auftrag von
Hintermännern gehandelt hatte.
    Kein Fall für
Nestor Burma. Der bog gleich hinter dem Café in die Rue des Jeûneurs ein, auch so
ein Straßen-Mißverständnis. Denn angeblich soll das Wort nicht vom Fasten
abgeleitet sein, sondern von den Jeux Neufs, den neuen Spielen, womit
bei der Namensgebung vor über 200 Jahren das Boule-Spiel gemeint war.
    „Als ich vor
dem Gebäude stand“, schildert Burma, „konnte ich es gar nicht übersehen. Fünf
Etagen. Viele hohe Fenster.“ Die horizontale Tafel aus schwarzem Marmor und den
Goldbuchstaben, die auf die Firma Lévyberg hinwiesen, fehlt heute. Natürlich.
Das Haus ist erst vor kurzem renoviert worden. Aber hinter den hohen Fenstern
wird noch immer mit Stoffen gehandelt.
    Bedruckte
Stoffe und bedrucktes Papier drücken diesem Viertel ihren Stempel auf. Aragon,
der unlängst verstorbene und letztverbliebene Hausphilosoph der französischen
Kommunisten, wittert in einem Roman die typische Duftnote dieses 2.
Arrondissements: „Die ganze Gegend riecht nach feuchtem Papier, nach Tinte und
nach alten Kleidern. Das Viertel atmet durch diesen Geruch den Duft der
Anarchie“.

    Ist es da
Zufall, daß Léo Malet, der konservative Anarchist’, als den er sich einmal
bezeichnet hat, das Büro des Nestor Burma
gerade in dieses zweite Arrondissement gelegt hat? Den Stoff-

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