Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
nicht erzählen. Mr. Bingley kannte weder die ganze Vergangenheit von Wickham, noch wußte er, weswegen die Freunde sich verfeindeten. Aber er ist bereit, seine Hand für die Rechtlichkeit, den Anstand und die Wahrheitsliebe seines Freundes ins Feuer zu legen, und er zweifelt nicht einen Augenblick daran, daß Mr. Wickham nicht die Hälfte von all dem verdient hat, was er von Mr. Darcy an Freundlichkeit erfahren hat. Es tut mir sehr leid, aber sowohl nach Mr. Bingleys Darstellung wie nach der seiner Schwester scheint Mr. Wickham keineswegs eine sehr wünschenswerte Bekanntschaft zu sein. Ich fürchte, er hat sich sehr unklug betragen und Mr. Darcys Freundschaft mit Recht verloren.«
»Mr. Bingley kennt Mr. Wickham nicht selbst?«
»Nein, vor dem Morgen in Meryton hatte er ihn nie gesehen.«
»Dann ist sein Bericht also nur eine Wiedergabe dessen, was Mr. Darcy ihm erzählt hat. Das genügt mir. Sagte er noch etwas über diese Geschichte mit der Pfarre?«
»Er konnte sich nicht genau an die näheren Umstände erinnern, obgleich Mr. Darcy sie ihm mehr als einmal erklärt hat; aber er glaubte, daß das Testament sie nur unter einer gewissen Bedingung Wickham zusicherte.«
»Mr. Bingleys Aufrichtigkeit steht natürlich ganz außer Zweifel«, sagte Elisabeth, »aber du mußt schon entschuldigen, daß ich mich nicht überzeugen lasse von dem, was er glaubt und meint. Daß Mr. Bingley so tatkräftig für seinen Freund eintritt, ist gewiß sehr schön; aber da er bloß Bruchstücke der Geschichte kennt und diese nur durch Mr. Darcy, ziehe ich es vor, meine Meinung über die beiden Herren nicht zu ändern.«
Sie ging dann auf ein anderes Thema über, das beiden mehr Freude machte und über das sie auch nur einer Meinung waren. Elisabeth vernahm mit herzlicher Anteilnahme, wie glücklich und hoffnungsfroh der Verlauf des Abends Jane gestimmt hatte, und sie tat alles, was sie konnte, um die Zuversicht der Schwester zu stärken. Als Bingley auf sie zutrat, wollte Elisabeth wieder ihre Freundin Charlotte aufsuchen. Da tauchte plötzlich Mr. Collins auf und teilte ihr freudig erregt mit, er habe eben durch einen ungewöhnlich glücklichen Zufall eine wichtige Entdeckung gemacht.
»Nämlich, ein naher Verwandter meiner verehrten Brotherrin befindet sich in diesem Augenblick mit mir unter einem Dach. Ich fing zufällig ein paar Worte im Vorbeigehen auf, die eben dieser Herr an die junge Dame richtete, die das Amt der Hausfrau versieht, und hörte dabei zu meinem Erstaunen, wie er von Miss de Bourgh als von seiner Cousine sprach. Wie seltsam ist doch dieses Zusammentreffen! Wer hätte je gedacht, daß ich auf diesem Fest einen Neffen von Lady Catherine treffen würde. Es erfüllt mich mit tiefster Befriedigung, daß mir diese Entdeckung noch rechtzeitig gelungen ist, so daß ich in der Lage bin, dem Herrn meine Reverenz zu machen, was ich unverzüglich tun werde; ich glaube und hoffe, er wird es mir verzeihen, daß ich es nicht schon eher getan habe. Die Tatsache meiner völligen Unkenntnis dieser verwandtschaftlichen Beziehung muß meine Lässigkeit entschuldigen.«
»Sie werden Mr. Darcy nicht anreden!«
»Aber selbstverständlich. Ich werde ihn bitten, Nachsicht mit meiner Versäumnis zu haben. Er ist höchstwahrscheinlich wirklich ein Neffe von Lady Catherine. Ich bin in der glücklichen Lage, ihm auf das Bestimmteste versichern zu können, daß Lady Catherine sich vor vierzehn Tagen äußerst wohl befunden hat.«
Elisabeth ließ nichts unversucht, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen: sie versuchte, ihm klar zu machen, daß Mr. Darcy seine unerwünschte Vorstellung viel eher als eine unverschämte Aufdringlichkeit ansehen würde denn als eine Artigkeit gegenüber seiner Tante; daß es höchst überflüssig sei, daß sie sich beide kennenlernten, und daß es überdies Mr. Darcy zustehe, den ersten Schritt zu tun, wenn es ihm so beliebe.
Mr. Collins hörte mit höflicher, aber fest entschlossener Miene zu, und als sie nichts mehr zu sagen wußte, erwiderte er:
»Meine liebe Elisabeth, Sie wissen, daß ich mich auf keines Menschen Worte lieber verließe als auf die Ihren, solange sie sich auf die Beurteilung von Dingen beziehen, die in Ihrem Erfahrungskreis liegen; aber erlauben Sie mir, Sie darauf hinzuweisen, daß notwendigerweise für die Geistlichkeit andere Formen des gesellschaftlichen Umganges richtunggebend sind als die, die Sie wohl eben meinten. Denn, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten wollen, das schwarze
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