Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Gardiner natürlich die mitgebrachten Geschenke verteilen und die letzten Modeneuheiten beschreiben. Sodann kam ihre zweite Aufgabe: jetzt mußte sie zuhören. Mrs. Bennet konnte wieder einmal ihr kummervolles Herz ausschütten: alle waren sie seit dem letzten Besuch ihrer Schwägerin sehr enttäuscht worden: zwei ihrer Töchter waren schon so gut wie verheiratet gewesen, aber schließlich fielen ihre ganzen Hoffnungen dennoch ins Wasser.
»Jane mache ich keinen Vorwurf«, fuhr sie fort, »denn Jane hätte Mr. Bingley schon genommen, wenn es nur dazu gekommen wäre. Aber Lizzy! Ach, liebste Schwägerin, es ist doch zu bitter, sich vorzustellen, daß sie heute schon Mrs. Collins sein könnte, wäre nicht ihre verdrehte Halsstarrigkeit gewesen! Hier in diesem Zimmer machte er seinen Antrag, und sie sagt einfach ›nein‹! Nun wird Lady Lucas eher als ich eine verheiratete Tochter haben, und meine Kinder werden einmal von Longbourn nichts erben. Diese Familie Lucas, das ist ein ganz berechnendes Volk, liebste Schwester; die nehmen, was sie nur immer bekommen können. So sehr es mich schmerzt, dergleichen von ihnen zu sagen, es stimmt leider. Du glaubst gar nicht, wie sehr meine Nerven und meine Gesundheit darunter leiden, daß ich in meiner eigenen Familie so wenig Verständnis finde und daß unsere Nachbarn so gar keine Rücksicht auf andere nehmen. Deine Ankunft in so schwerer Zeit ist wirklich eine wahre Wohltat, und es hat mich äußerst interessiert, deine Beschreibung der neuen Ärmelmode zu hören.«
Mrs. Gardiner wußte von den verschiedenen Ereignissen schon aus den Briefen ihrer Nichten; sie gab ihrer Schwägerin also nur eine unverbindliche Antwort und fing dann aus Rücksicht auf Jane und Elisabeth ein anderes Gespräch an.
Später, als sie mit Elisabeth allein war, kam sie aber wieder auf Jane zu sprechen.
»Schade, daß aus Jane und Bingley nichts wurde«, sagte sie. »Nach deinen Beschreibungen müßten sie sehr gut zueinander gepaßt haben. Aber dergleichen kommt ja so häufig vor. Ein junger Mann verliebt sich leicht einmal in ein hübsches Mädchen für ein paar Wochen und vergißt sie ebenso leicht, sobald ein Zufall sie trennt.«
»Das mag in den Fällen, wo es zutrifft, ein recht schöner Trost sein«, entgegnete Elisabeth, »aber in unserem Fall trifft es eben nicht zu. Da war es kein Zufall. Und sehr oft dürfte es doch nicht vorkommen, daß ein selbständiger junger Mann sich durch das Dazwischentreten anderer dazu überreden läßt, ein Mädchen fallen zu lassen, in das er noch ein paar Tage zuvor wahnsinnig verliebt war!«
»›Wahnsinnig verliebt‹ ist ein solcher Gemeinplatz geworden und bedeutet heute so wenig, daß ich mir darunter gar nichts vorstellen kann. Nach einem halbstündigen Gespräch ist man heutzutage nicht weniger ›wahnsinnig verliebt‹ als bei einer auf langer, tiefer Zuneigung beruhenden Liebe. Also sag mir, wie ›wahnsinnig‹ war denn Mr. Bingleys Verliebtheit?«
»Nun, ich jedenfalls habe noch nie eine so offenkundige Zuneigung gesehen: er hatte nur noch Augen für Jane, und wenn sie in seiner Nähe war, beachtete er niemand anderes. Das wurde von Mal zu Mal deutlicher und auffälliger. Auf dem Ball, den er gab, stieß er mehrere junge Damen vor den Kopf, weil er sie nicht ein einziges Mal zum Tanzen aufforderte; und als ich ihn ansprach, schien er geradezu taub zu sein. Könnte es bessere Anzeichen geben? Ist solche Unhöflichkeit nicht geradezu das Kennzeichen von Verliebten?«
»Ja, gewiß — für die Art Liebe, die er meiner Meinung nach für Jane empfand. Arme Jane! Sie tut mir leid: so wie sie veranlagt ist, wird sie diesen Schlag wohl nicht so bald verwinden können. Es wäre mir viel lieber gewesen, wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst, Lizzy; du hättest dich eher von allen traurigen Gedanken freilachen können. Aber was meinst du, ob ich sie überreden kann, mit uns nach London zurückzukehren? Aus der Umgebung fortzukommen, in der sie unglücklich wurde, wird ihr sicher gut tun — und sich von euch zu Hause zu erholen dürfte auch keine schlechte Idee sein!«
Elisabeth freute sich aufrichtig über diesen Vorschlag und war überzeugt, daß ihre Schwester ihm zustimmen würde.
»Ich will nur hoffen«, setzte Mrs. Gardiner hinzu, »daß Jane sich in London keine dummen Gedanken wegen dieses jungen Mannes in den Kopf setzt. Da wir in einem ganz anderen Viertel wohnen und unsere Freunde einem ganz anderen Kreise angehören und da wir, wie du
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