Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
zu erhalten; und nach einer Pause fügte sie deshalb hinzu: »Ich habe gehört, daß Mr. Bingley keine große Lust haben soll, jemals wieder nach Netherfield zurückzukehren?«
»Ich weiß davon nichts. Aber es ist schon möglich, daß er nur wenig Zeit in Zukunft dort verbringen wird. Er hat viele Freunde, und in seinem Alter nimmt der Freundeskreis und nehmen die gesellschaftlichen Verpflichtungen ständig zu.«
»Wenn er nur selten nach Netherfield zu kommen gedenkt, dann wäre es doch besser, wenn er das Haus wieder loszuwerden versuchte; vielleicht käme dann eine Familie dorthin, die sich für immer da niederlassen würde. Aber Mr. Bingley hat das Haus natürlich nicht der Nachbarn wegen genommen, sondern aus anderen Gründen, und dieselben Gründe werden ihn wohl weiterhin dazu veranlassen, Netherfield zu behalten oder aufzugeben.«
»Es sollte mich nicht wundern«, meinte Darcy, »wenn er das Haus ganz aufgäbe, sobald er ein vernünftiges Angebot erhält.«
Elisabeth antwortete nicht; sie scheute sich, weiter über seinen Freund zu sprechen. Und da sie nichts mehr zu sagen wußte, überließ sie jetzt ihm die Mühe, einen Gesprächsstoff ausfindig zu machen. Er verstand den unausgesprochenen Wink und begann nach kurzer Pause wieder: »Das Haus hier scheint recht gemütlich zu sein. Hat Lady Catherine nicht sehr viele Neuanschaffungen machen lassen, als Mr. Collins in Hunsford seinen Einzug hielt?«
»Ich glaube wohl, und ich weiß, daß kein Gönner sich einen dankbareren Bewunderer hätte aussuchen können.«
»Mr. Collins scheint mir sehr glücklich in der Wahl seiner Gattin gewesen zu sein.«
»Ja, sehr! Seine Freunde haben allen Grund, ihn dazu zu beglückwünschen, daß er eins von den bestimmt nicht zahlreichen vernünftigen Mädchen getroffen hat, die ihn genommen und ihn außerdem noch glücklich gemacht hat. Charlotte versteht sich bestimmt sehr gut darauf, sich auf Menschen einzustellen, doch ich kann trotzdem nicht behaupten, daß ich ihre Heirat mit Mr. Collins für eine ihrer klügeren Handlungen ansehe. Sie macht aber einen durchaus zufriedenen Eindruck, und vom Standpunkt der Vernunft aus gesehen, hat sie ja auch keine schlechte Partie gemacht.«
»Es muß ein sehr angenehmer Gedanke für sie sein, ihren eigenen Hausstand in einer solch bequemen Entfernung von ihrer Familie und ihren Freunden zu haben.«
»Das nennen Sie eine bequeme Entfernung? Fünfzig Meilen sind es!«
»Und was sind schon fünfzig Meilen auf diesen guten Straßen? Wenig mehr als eine halbe Tagereise. Ich nenne das eine bequeme Entfernung!«
»Nun, ich würde diese Entfernung nicht gerade als einen der Vorteile ihrer Ehe bezeichnet haben!« rief Elisabeth aus. »Ich habe nie das Gefühl gehabt, daß Charlotte in unserer Nähe wohnt!«
»Das beweist nur, wie sehr Sie an Hertfordshire hängen; alles, was nicht unmittelbare Nachbarschaft von Longbourn ist, erscheint Ihnen gewiß als ferne Fremde!« Er sagte dies mit einem Lächeln, von dem Elisabeth glaubte, es deuten zu können — er vermutete wahrscheinlich, sie habe mit einem Gedanken an Jane und Netherfield so gesprochen —, und sie errötete, als sie antwortete: »Ich wollte damit nicht sagen, daß man nicht auch zu nahe bei seinen Angehörigen leben kann. Aber nah und fern sind unbestimmte Begriffe und können unter verschiedenen Umständen Verschiedenes bedeuten. Wenn man so reich ist, daß die Kosten einer Reise keine Rolle spielen, dann ist Entfernung durchaus kein Nachteil. Aber das ist bei unseren Freunden nicht der Fall: Mr. Collins hat zwar ein recht schönes Einkommen, aber zu häufigen Reisen langt es denn doch nicht. Charlotte würde sich selbst bestimmt nicht als ihrer Familie nahe bezeichnen, auch wenn sie nur halb so weit entfernt lebte wie jetzt.«
Mr. Darcy zog seinen Stuhl etwas näher an den ihren heran und sagte: »Sie können doch aber keinen Grund haben, so sehr an Longbourn zu hängen. Sie machen so gar nicht den Eindruck, als ob Sie ständig dort gewohnt hätten.«
Elisabeth sah ihn ganz erstaunt an. Darcy faßte sich wieder, rückte etwas ab und fragte, indem er eine Zeitung vom Tisch nahm und in ihr zu blättern begann, in beherrschterem Tone: »Wie gefällt Ihnen Kent?«
Ein auf beiden Seiten ruhig und sachlich geführtes Gespräch über die Schönheiten der Landschaft folgte, bis es durch den Eintritt von Charlotte und ihrer Schwester unterbrochen wurde, die gerade von ihrem Gang zurückgekehrt waren. Auf ihren Gesichtern stand
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